Nur wenige Tage nach dem verheerenden Anschlag von 9/11 ist die Panik noch kaum verflogen. Just in diesen Tagen steht für Laurie Anderson (LA) die Town Hall New York City am Tourplan: Andere hätten angesichts der allgemeinen Konfusion die Show abgesagt, LA hingegen nützt die neuen Rahmenbedingungen und integriert ältere Stücke ins Programm. Mit den mit Roboterstimme vorgetragenen Zeilen „Here come the Planes. They’re American Planes. Made in America. Smoking or non-smoking?” dockt ihr einziger Hit „O Superman”(1982) inhaltlich in prophetischer und gespenstischer Art und Weise an die politische Katastrophe an. „Ich habe oft über Verlust, Betrug, Tod, Technologie, Zorn und Engel geschrieben. Ich fühlte mich, als hätte ich die Songs erst gestern geschrieben … und jetzt singe ich auf einmal über die absolute Gegenwart.“ Am ersten Jahrestag des Terroranschlags erscheint mit „Live At Town Hall New York City 2001“ ein beeindruckendes Dokument dieser Performance mit Material aus über 20 Jahren Musik/Multimedia-Produktion.
America’s Multi-Mediatrix
Geboren 1947 nahe Chicago, spielt die kleine Laurie bereits als Kind Violinkonzerte mit dem Chicago Youth Symphony Orchester, bis das Talent sich zu Ausbildungszwecken Richtung New York absetzt. Mit herausragenden Leistungen absolviert sie das Barnard College und anschließend ein Studium der bilden Künste an der Columbia University. Sie arbeitet vor allem mit Bildhauern, Malern und Musikern (Gordon Matta-Clark, Tina Girouard, Keith Sonnier und Philip Glass), die bekannteste Performance aus dieser Phase ist „Duets on Ice“. Mit präparierter Violine – von Tonbandschleifen begleitet – steht Anderson dabei im Freien, trägt in einen Eisblock eingefrorene Rollschuhe. Dabei spielt sie Stücke von Tschaikowskij und rezitiert eigene Texte, bis das Eis geschmolzen ist. Mit dieser und anderen Performances und Happenings befindet sich „America’s Multi-Mediatrix“ („Wired“) in einer Traditionslinie mit John Cage, der Fernsehoper „Private Lives“ (1975) des Komponisten Robert Astley , der Choreografin Meredith Monk und den Techno-Gag-Shows des Neunerkollektivs Mabou Mines. Mit Vorliebe nimmt sie Manipulationen an der (immer elektrisch verstärkten) Violine vor: Sie ersetzt etwa die Saiten durch einen Magnetknopf und die Bogenhaare durch ein bespieltes Tonband, oder entwickelt 1976 den Viophonographen, eine Geige, auf die eine 7“-Single montiert ist, welche mit dem Violinenbogen artgerecht bearbeitet wird.
Das Rezitieren von Texten bzw. ihre performative Sprachartistik stehen nicht nur in dieser Schaffensphase gleichberechtigt neben den elektro-technischen Soundquellen. Mit der Einbindung einer Krawatte mit Elektronik-Klaviatur und dem Tragen eines „Drum Suits“, dem sie mit Schlägen der Handfläche auf diverse Körperteile Percussion-Effekte entlocken kann, liefert sie einen praktischen Beitrag zur aktuellen Mensch-Maschine-Diskussion.
Knochen als Klangtransmitter
In diesen Bereich fällt auch die Arbeit „Handphone Table – Remembering Sound“, die LA als Teil der der Künstlergruppe Talented Teens realisiert. Diese Versuchsanordnung ist insofern interessant, als sie 2009/10 im Rahmen der Ausstellung „See This Sound“ im Lentos-Kunstmuseum Linz (als Leihgabe des Museum of Modern Art) zu bestaunen (und auszuprobieren) war und sogar das Cover des Ausstellungskatalogs ziert. Dabei werden Geräusche beziehungsweise Musik von einem in die Tischplatte integrierten Tonbandgerät über die aufgestützten Arme der Benutzer auf Hände und Kopf übertragen, als Klangleiter fungieren die wegen ihrer porösen Struktur bestens geeigneten Arm- und Handknochen. Mit diesem Exponat realisiert LA eine intime Version von raumbezogener Musik, die nicht nur gehört, sondern auch gefühlt werden soll. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, wie überzeugend der Handphone-Table diese Vorgaben einlöst und den gesamten Körper in Schwingung versetzt.
1981 begibt sich Anderson in die Arena des Avantgarde-Pop und veröffentlicht auf einem Kleinstlabel „You‘re The Guy I Want To Share My Money With“ (gemeinsam mit William S. Burroughs und John Giorno), bevor sie 1982 mit dem erst unlängst aufgepeppt wieder veröffentlichten „Big Science“ für kurze Zeit zum Pop-Star wider Erwarten aufsteigt. Genau genommen ist es ja nur die Techno-Voice-Single „O Superman“ (siehe oben), die sich als Fremdkörper in den (vor allem britischen) Charts einnistet. Ich erinnere mich noch gut daran, dass „O Superman“ auf einem meiner ersten aus dem Radio aufgenommenen Tapes, das am Beginn etwas abgeschnittene Einstiegsstück war, mit dem ich meine Mutter ohne Anstrengung perfekt provozieren konnte. 1982 war Popmusik eben in Ausnahmefällen noch generationenkonfliktkompatibel!
Techno und große Themen
Mit „United States I-IV“ stellt LA 1983 ein (national)-episches Multimediaspektakel auf die Bühne, dass zwischen vier und acht Stunden dauert (die Angaben divergieren), in dem sie ihrer eigenen Befindlichkeit und den Verhältnissen in ihrem Heimatland mit allen Widersprüchlichkeiten nachspürt, wofür sie nicht weniger als 1.200 Fotos, Filme, Cartoons und Bilder in Verbindung mit Musik und Text zum Einsatz bringt. Als Extrakt aus dieser erfolgreichen Tournee entsteht 1986 der Film „Home of the Brave“ und der Soundtrack auf Platte. Bemerkenswert ist, dass die futuristische Soundarchitektur auch ohne die optische Dimension auf dem Plattenteller bestens funktioniert, was für die Qualität der noch immer bei weitem nicht (pop)radiotauglichen Kompositionen spricht. Davon abgesehen liefert LA mit ihren computergenerierten Stücken einen Blueprint für die zu dieser Zeit noch in weiter Ferne liegende Technokultur. Inhaltlich greift LA in „Language Is a Virus“ die Theorie des „Language is a Virus from Outer Space“ ihres Freundes und Kollaborateurs William S. Burroughs auf, der auch mit einem knorrigen Vocal-Sample im Stück „Late Show“ prominent vertreten ist. Überhaupt lädt Anderson, die sich selbst kokett als Geschichtenerzählerin definiert, gern das Who Is Who der internationalen Avantgarde- und Jazzszene ins Studio: Der Hansdampf-in-allen-Gassen Bill Laswell ist bereits ab „Mister Heartbreak“ (1984) an Bord, es folgen Kooperationen mit Brian Eno, Peter Gabriel, dem Vokal-Virtuosen Bobby McFerrin, Robbie Krieger von den Doors, Arto Lindsay und natürlich der alte Miesepeter Lou Reed, um nur die bekanntesten zu nennen. Auf dem Album „Strange Angels“ (1989) finden sich – nur um einen ungefähren Eindruck zu bekommen – gezählte 52 Musiker in den Credits. Mit Lou Reed ist LA übrigens seit gut 15 Jahren verpartnert und seit einigen Jahren sogar richtig verheiratet. 2009 absolvierte das kunstprominente Ehepaar eine Tour mit (oder gegen?)einander. 1999 nimmt sie sich den inhaltlich die großen Menschheitsfragen thematisierenden Roman „Moby Dick“ als Vorlage für ein amerikanisches Multimedia-Nationalepos. Vor übermächtigen Stoffen und den zentralen Themen der Menschheit hat LA also keine Scheu, wenn ihr Zugang auch eher der ist, die richtigen Fragen zu stellen als Antworten parat zu haben. Besonderes Anliegen ist ihr – wenig überraschend – immer wieder das Verhältnis des Menschen zur Technik.
Oper für Hunde im Weltall
Eine außergewöhnliche Rolle spielt LA auch als Artist in Residence bei der NASA. Für schlanke 20.000 Dollar Gage darf sie im Forschungszentrum der National Aeronautics and Space Administration die Nano-Welt im Kleinstteiligen erkunden und bei Mission Control in Houston hospitieren. Durch das Hubble-Weltraumteleskop hat sie die seltene Gelegenheit, in unvorstellbare Weiten zu blicken, eine Erfahrung, die sie im 90-Minuten-Monolog „The End of the Moon“ für unverzerrte Sprechstimme mit Digitalbegleitung verarbeitet. Aber nicht nur das Wohl der Menschen ist ihr ein Anliegen, auch das der Tiere – insbesondere der Hunde. Nach dem Besuch eines Restaurants für Hunde in dem die Vierbeiner wie Menschen auf den Bänken sitzen kommt LA gemeinsam mit dem Cellisten Yo-Yo-Ma die Idee, eine Oper für Hunde zu komponieren. Das Ergebnis ist ein 20-minütiges Stück, vor allem im hochfrequenten, für das menschliche Ohr gerade noch hörbaren Bereich, bestehend aus vielen Streichern und Computersounds. Dabei wird besonders der Stereo-Effekt betont, damit die Hunde im Publikum – die über ein viel besseres Gehör als der Mensch verfügen – ähnlich den Besuchern einer Tennispartie den Kopf ständig hin – und her bewegen. Aufgeführt wird die Hundeoper 2010 auf dem Platz vor der Oper in Sydney, zu Ausschreitungen und Wadlbeissereien soll es nicht gekommen sein. Anderson bezeichnet das Konzert als „einen Höhepunkt ihres Lebens“. An dieser Arbeit zeigt sich wie tief im (auch absurden)Theater verwurzelt die Produktion der US-amerikanischen Künstlerin ist und dass es ihr keinesfalls an Humor mangelt.
Bezüglich Albumreleases ist es seit mehr als zehn Jahren ruhig um LA geworden. Erst 2010 veröffentlicht sie mit „Homeland“ wieder eine Produktion im bewährten, unverwechselbaren Mix aus Soundcollagen, Violine, viel Rezitativ; als Special Guests sind Stimmwunder Antony Hegarty und Ex-Freejazzer John Zorn mit von der Partie. Neu sind die unterschiedlichen Erzählperspektiven: LA schlüpft ab und an in die Rolle ihres männlichen Alter Ego Fenway Bergamot, der auch schnurrbärtig streng vom CD-Cover blickt.
Kommentiert wird manches über die US-amerikanische Post-9/11-Gesellschaft, von Börsencrash über Klimawandel und die Dekade des Terrors, bis zu den so genannten Experten, die den Menschen Probleme verklickern wollen, die diese ohne Experten gar nicht hätten. Auf dem Track „Bodies In Motion“ ist übrigens Andersons Hündin Lollabelle zu hören. Was sich für das Donaufestival genauer hinter der Ankündigung „Laurie Anderson Performing Transitory Life“ verbirgt, ist (außer dass TL ein Songtitel des letzten Albums ist) bei Redaktionsschluss noch unklar. Es ist aber nicht auszuschließen, dass es sich um eine Art multimediale Performance handeln wird.
Donaufestival Krems 2011, „nodes, roots & shoots“
28. April bis 07. Mai 2011