Seit über vier Jahrzehnten begeistert sie das Kinopublikum, und die Branche und die Fachpresse nicht minder. In Zahlen stehen als Beweis dafür die 21 Oscar-Nominierungen, ein Rekord, zu Buche, die Meryl Streep sich im Lauf ihrer einzigartigen Karriere erarbeitet hat. In dieser Liste finden sich Filme, die unter anderem ihre große Wandelbarkeit belegen, so glänzte Streep in tragischen, ernsten und komödiantischen Rollen gleichermaßen. Kurz nach ihrer Darstellung einer Frau, die ihren Mann und ihr Kind verlässt und sich dann um das Sorgerecht bemüht, in Kramer vs. Kramer (1979, R: Robert Benton), für die sie den Academy Award in der Kategorie Best Supporting Actress gewann, bekam sie für ihre Leistung in Alan J. Pakulas Sophie’s Choice (1982) die Trophäe als Beste Hauptdarstellerin. Sie trägt den Film in beeindruckender Manier, vermochte mit ihrer Verkörperung einer polnischen Immigrantin, die in Brooklyn mit einem schwerwiegenden KZ-Trauma sowie in einem Beziehungsdreieck zu kämpfen hat, auch jene zu überzeugen, die der Literaturverfilmung skeptisch entgegentraten. Spätestens da gab es kein Zurück mehr, Meryl Streep wurde die Frau für große Rollen, in epischen Liebesgeschichten wie Sydney Pollacks Out of Africa (1985) oder Clint Eastwoods The Bridges of Madison County (1995) und in Filmbiografien besonderer Frauen, etwa in Silkwood (1983, R: Mike Nichols) als Whistleblowerin und Aktivistin Karen Silkwood. Humorvoll war sie an der Seite Shirley MacLaines in Postcards from the Edge (1990) zu sehen. In dieser dritten Zusammenarbeit mit Regisseur Mike Nichols (er inszenierte das Buch von Carrie Fisher) führt Streeps Gesangsauftritt in die Schluss-Credits, das Singen sollte ihre Charaktere noch des Öfteren mitprägen, u. a. oscarnominiert als Florence Foster Jenkins (2016, R: Stephen Frears). Ihren zweiten Hauptdarstellerinnen-Oscar gewann Meryl Streep – dreißig Jahre nach ihrem ersten – jedoch wieder für eine „strengere“ Rolle, jene der Margaret Thatcher höchstpersönlich in The Iron Lady (2011, R: Phyllida Lloyd).
Am 22. Juni 2024 wurde die große US-amerikanische Schauspielerin 75 Jahre alt, müde ist sie ihres Berufs noch nicht geworden: Seit 2021 ist sie auf Netflix in der Satire Don’t Look Up als US-Präsidentin streambar, in der Hulu-Serie Only Murders in the Building wird sie auch in der kommenden vierten Staffel mitwirken. Für ihren großen Beitrag in der Welt des Kinos und zur Filmgeschichte wurde Meryl Streep beim diesjährigen Festival in Cannes die Ehrenpalme für ihr Lebenswerk verliehen. In einem ausführlichen Gespräch erzählte sie dort von verschiedensten Meilensteinen ihres Schaffens.
Was sind Ihre Erinnerungen an Cannes im Laufe der Jahre? Insbesondere an das Jahr 1989, in dem Sie die Goldene Palme als Beste Schauspielerin für „A Cry in the Dark“ gewonnen haben?
Meryl Streep: Als ich das erste Mal nach Cannes kam, sagte man mir: „Sie werden neun Leibwächter brauchen.“ Und ich sagte: „Glauben Sie mir, ich brauche keinen!“ Ich habe keinen Leibwächter, nicht einmal zu Hause. Aber sie sagten: „Sie werden neun brauchen.“ In der Tat benötigte ich rund ein Dutzend, als ich das erste Mal hierherkam. Denn früher gab es nicht die gleichen Sicherheitsvorkehrungen wie heute. Es gab also keine Absperrungen, und die Leute kamen einfach … und die Kameras wurden hochgerissen … es war verrückt. Davon habe ich mich fast nicht erholt. Ich ging ins Hotelzimmer und konnte nicht glauben, wie wild es war. Das war also vor 35 Jahren. Seitdem hat sich viel verändert, die Welt hat sich sehr verändert. Das ist es also, woran ich mich wirklich erinnere. Der Moment, als ich den Preis bekam? Ich glaube nicht, dass ich mich überhaupt daran erinnern kann. Ich hatte solche Angst.
Sie hatten Angst?
Ich hatte Angst, ja. Ich bin eben kein Rockstar. Ich habe ein sehr langweiliges Leben, ich meine, nicht langweilig, aber voller Dinge, die nicht so übertrieben sind.
Gehen wir ein wenig zurück und beginnen mit „Kramer vs. Kramer“. Stimmt es, dass Sie darum gebeten haben, die Rede am Ende, wo Sie aussagen, umzuschreiben?
Kramer vs. Kramer handelt von einer Scheidung. Der Film basiert auf einem Roman von einem Mann namens Avery Corman. Es war eine Art Racheroman. Ich glaube, er ist aus einer echten Wut heraus entstanden. Es war der Beginn der Frauenbewegung, was nicht alle glücklich gemacht hat. So kam es zu vielen boshaften Bemerkungen darüber, dass diese Frauen aus der ihnen zugewiesenen Rolle heraustraten und diesen armen Mann sein Kind großziehen ließen. Im Roman bleibt es ziemlich undurchsichtig, warum sie geht. Ich glaube nicht, dass es den Autor interessierte, warum sie ging, er war wirklich an dem Dilemma des Vaters interessiert. Wie konnte er diesen Buben großziehen und seinen Job behalten? Er wusste kaum, wie man mit einem Vierjährigen umgeht. Das war an und für sich interessant. Als Robert Benton den Film übernahm und am Drehbuch arbeitete, war er auch der Regisseur. Am Anfang trennen sie sich also, sie geht, und der Großteil des Films handelt davon, wie Dustin Hoffman seinem kleinen Jungen so nahekommt wie nie zuvor. Dann kommt die Mutter nach 18 Monaten Abwesenheit zurück und klagt um das Sorgerecht. Also fragte Benton: „Warum ist sie gegangen?“ Und Dustin sagte: „Ich weiß es.“ Und ich sagte: „Oh, erzähl mir warum.“ So entbrannte diese große Diskussion über das Warum. Benton sagte: „Also, ich brauche diese Rede für den Gerichtssaal. Ich brauche sie, weil ihr Verhalten so mysteriös ist.“ Also gingen wir alle in unsere Umkleidekabinen, Dustin schrieb seine Version meiner Rede, Robert schrieb seine Version, ich schrieb meine und dann stimmten wir ab – und ich gewann! (Lacht.) …
Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 76
Interview: Vicky Dearden
Übersetzung: Philip Waldner
Text: Jakob Dibold