Darf es mal ein bisschen authentischer sein? Der ehrwürdige Reverend Peyton lügt nicht. Seine Combo ist vielleicht nur ein Trio, aber sie ist BIG, und eine Familie ist sie obendrein. Ehefrau Breezy bedient das Waschbrett (stainless steel), Cousin Aaron „Cuz“ Persinger trommelt (zum Kit gehört ein five gallon bucket). Peyton gibt als Haupteinflüsse Charlie Patton und Furry Lewis an – der Mann ist also auf der Höhe der Zeit. Country Blues versteht er so: „When folks go to see a band perform, they want to come out to see a show and that’s nothing new. Charlie Patton was playing with his teeth and behind his head in 1930. Now people say that’s punk rock, but they’ve been doing that for a hundred years. I think country blues was the first punk rock, if you ask me.“ Die kongeniale Verquickung von Punkrock und Country Blues ist auf dem neuen Tonträger in symbiotischer Vollendung zu goutieren: „Peyton On Patton“ heißt die Platte, und drin ist, was drauf steht. Wir wissen bereits: Der Mann lügt nicht. Aufgenommen hat Peyton seinen Tribut im absoluten No-Bullshit-Produktionsverfahren. Mit nur einem Mikro und weitgehend ohne Band ging es in einem Studio seines Heimatstaates Indiana zur Sache. Nur bei zwei Songs steuert Breezy ihre nicht zu vernachlässigenden Waschbrett-Künste bei und singt zudem ein Duett mit ihrem Göttergatten, den absolut herzerweichenden „Elder Green Blues“. Cuz lässt gelegentlich seine Hände auf einem uralten Tabakfass aufklatschen. Vom ursprünglichen, etwas überambitionierten Plan, ein Dutzend Versionen seines Lieblingssongs „Some of These Days I’ll Be Gone“ aufzunehmen, ist Peyton dann doch abgerückt. Drei Mal hat er das Stück immerhin ins Programm aufgenommen, und kann so neben seiner Virtuosität in Sachen Fingerpicking auch seine Meisterschaft von Slide Guitar und Banjo exemplarisch demonstrieren. Falsche Bescheidenheit ist seine Sache nicht, diese Fähigkeiten wurden ja nicht eben beiläufig erworben. Peyton betont, dass er erst jetzt, mit 30 Jahren, ausreichende Versiertheit erlangt hat, um diese Platte einzuspielen. Blues wird seit den verfluchten Folk-Zirkeln der Sechziger ja gerne als primitive Musik beschrieben. Den Anhängern dieser verfehlten Anschauung kann nur empfohlen werden, sich einmal selbst an einem Patton-Stück zu versuchen. „Complex, hot virtuoso guitar playing“ hat John Fahey das einmal treffend benannt. Fahey war selbst Urheber einer höchst originellen Sologitarrenmusik, wie sich auf über 30 zumeist exzellenten Alben gut nachhören lässt. Nebenbei hat er als Autor in erratischer Gründlichkeit mit den Mythen des Blues aufgeräumt und 1970 ein Buch über Patton geschrieben. Ein Nachdruck dieses Klassikers lag dem auf seinem Label Revenant herausgegebenen Patton-Box-Set „Screamin’ and Hollerin’ the Blues“ bei. Mittlerweile ist auch diese Komplettsammlung aller bekannten Patton-Einspielungen, die 2001 zu recht einen Grammy als bestes Reissue abgeräumt hat, vergriffen.
Trotz dieses Achtungserfolgs ist Patton immer eine eher obskure Figur geblieben. Da nützte es auch wenig, wenn selbst Bob Dylan zu Protokoll gab: „If I made records for my own pleasure, I would only record Charlie Patton songs.“ Der Flappentext der Revenant-Box bringt das Patton-Universum so auf den Punkt: „Possessor of a driving, percussive guitar style, a gravel-encrusted holler, often improvisatory lyrics, complex rhythmic dynamics, an unequalled ‚talking‘ bottleneck and a deep reservoir of melodic hooks, Patton conjured up songstuffs that gave vent to both a restless artistic temperament and a palpable, lingering rage. Hear why John Fahey posits him as a pilgrim of the ominous, one of the earliest progenitors of Fire Music, powered by something wholly other which Patton himself did not understand. And, though less romantic than the oft-trod portrait of Patton as an ego-ruled sociopath, David Evans‘ painstaking new research into Patton’s personality reveals why folks like Bukka White and Pops Staples considered Patton a ‚great man‘.“ Alles klar?
Reverend Peyton ist kein Mann großer Worte, das haben uns die simplen und launigen Texte seiner eigenen Songs bereits ausreichend veranschaulicht. In der Hitze aktueller Popkultur-Diskurse fühlt er sich vermutlich auch nicht wohl, obwohl er zufällig gerade voll im „Retromania“-Trend liegt. Die Platten der Family erscheinen seit 2008 auf Side One Dummy, einem ziemlich bodenständigen Label, das hauptsächlich Punkrock an den Mann bringt. Flogging Molly, Chuck Ragan, Gaslight Anthem, 7 Seconds und die neuerdings revitalisierten Scream heißen Labelkollegen und Tourbegleiter, die gerne in Sammelpackungen unterwegs sind. Vielleicht hat das dauernde Abhängen mit Punkrockern Peyton darin bestärkt, ausgerechnet in dem Jahr ein Patton-Tribute umzusetzen, in dem hundert Jahre Robert Johnson gefeiert werden. Neben der wahnwitzig genialen Gitarrenarbeit haben Peyton und Patton noch eines gemeinsam: eine verflucht laute Stimme. Der originale Bluesmeister wird natürlich durch die recht matte Aufnahmetechnik (seine Platten entstanden 1929 bis 1934) nicht gerade adäquat repräsentiert, aber man spürt schon noch eine mehr als deutlich Ahnung von dem, was Zeitzeugen „deafening“ nannten. Ein Attribut, das man anhand des Organs von Peyton bestenfalls als grobes Understatement verwenden kann. Neben der fast sklavisch nachempfundenen instrumentalen Portion seiner Ehrerbietung, liegt im Gesangspart klarerweise die größte Differenz zum Original: „The one way I can’t help it is vocally. I sing the way I sing and I’m not going to be able to match Charlie Patton no matter what I do. He’s got a voice, I got a voice. In that way it’s 100% me, but I wanted to make something that was like Charlie and my favorite stuff of Charlie Patton’s is just him on the guitar, you know, that’s what I want to do – just Peyton on Patton.”
Trotz der schnörkellosen Einspielung ist Peytons Platte natürlich doch dem State of the Art 2011 näher als 1930. Alle Elemente sind klar im Mix, kein Rundumlärm verdirbt den Hörgenuss. Die Störgeräusche historischer Blues-Aufnahmen hat Peyton nicht künstlich nachgestellt, das wäre dann doch ein Scherflein zu viel von der guten, alten Authentizität. „Pop damaged ears“, wie Peyton es nennt, sollen auch Freude an dieser Musik haben können. Aber ungefähr so wie zu Zeiten Pattons sollte es schon ablaufen. Keine Computer, kein Overdubbing, kein Pro Tools. Nur ein paar Menschen, Instrumente und ein Mikrofon. Aufgenommen wurde an einem Tag. Eine weitere Analogie zu Patton, dem Rekordhalter in Sachen veröffentlichter Platten, die aus einer einzigen Session resultieren. Bei der Auswahl der Songs hat Peyton darauf geachtet, möglichst viele Spielweisen Pattons zu berücksichtigen und jene Stücke auszulassen, die schon andere Vorredner gecovert haben. Eine Detailverliebtheit, die sich bezahlt macht. Selbst der gewiefteste Patton-Kenner wird über die kenntnisreiche, die obligatorischen Hits vermeidende Auswahl erstaunt sein. Weiterhin ist es auch kein Allgemeinplatz, wenn Peyton angibt, nur jene Songs zu spielen, denen er tatsächlich gerecht werden kann. Eine fahle oder flaue Note sucht man auf dieser LP vergeblich. Einen Höhepunkt hat Peyton leider auf die mit 78 Umdrehungen in der Minute zu spielende 10“-Beilage der Erstpressung verbannt: „Jesus Is A Dying Bed Maker“ (was für ein Songtitel!), aufgenommen „in the cotton gin at dockery farms“ samt mitmusizierender Flora und Fauna. Es gibt auch ein hübsches Beweisvideo – guckt mal. Und ja, Ihr habt es erraten, dort hat Charlie Patton den Hauptteil seines kurzen Lebens verbracht.
Wir sprechen über eine riesige Baumwollplantage im Mississippi Delta und meinen damit wiederum nicht jenes Gebiet, wo der olle Fluss in den Golf von Mexiko strömt. Wir zweigen wieder ab, und zwar diesmal Richtung Stephen Calt, der vielleicht noch vor Fahey der wichtigste Autor über die Materie ist. Zwei phänomenale Bücher über Charlie Patton („King of the Delta Blues“) und Skip James („I’d Rather Be the Devil“) gehen auf sein Konto, und mit „Barrelhouse Words: The Blues Dialect Dictionary“ hat er ein selbst für Native Speaker nicht ganz überflüssiges Nachschlagewerk vorgelegt. Folgende Beobachtungen, Feststellungen und Details sind von Calt geborgt: „Charlie Patton (1891–1934) was the most powerful blues recording artist of all time, as well as the most subtle.“ „A throat-slashing suffered at a Holly Ridge dance in 1933 impaired Patton’s singing.“ „For the most part Patton gained his livelihood serenading rowdy all-night dances.“ „It is apparent from his records that he was an uncopyable guitarist, and an imaginative arranger who made innovative departures from the standard mode of dance blues, to which he brought a unique sense of drama and comedy. His facility for capturing his vocal nuances with impromptu guitar figures has never been matched by a blues guitarist.“ Charlie Patton ist laut Calt einer von nur drei Musikern des Mississippi Delta, die mit drei Fingern der rechten Hand gespielt haben –Mississippi John Hurt und Bo Carter sind die anderen beiden. Patton war weiterhin auch einer der wenigen Musiker, die von der standardisierten melodischen Struktur des Blues abwichen, man höre beispielsweise dazu die aufeinanderfolgenden Variationen in „Screamin’ And Hollerin’ the Blues“. Man weiß, dass Patton die einzige Mississippi-Entdeckung war, die auch im Schallplatten-Business einen gewissen Erfolg hatte. Allein 1930 sind 43 „sides“ erschienen. Andere Blues-Leute der Gegend wie Ishmon Bracey, Bo Carter, Tommy Johnson oder Blind Joe Reynolds wurden kaum aufgenommen oder veröffentlicht. Patton ist heute relativ bekannt, weil frühe Blues-Sammler ihn besonders mochten. Ein Jazz-Sammler namens James McKune war Mitte der Vierziger Jahre der erste Supernerd, der dem Blues eine ästhetische Bedeutung beigemessen hat. Als Hobby betrieb er ein Reissue Label. In den Sechzigern ist er völlig vereinsamt und wandelte „sockless and seemingly brain damaged from alcohol“ in der Lower East Side herum. 1971 wurde er brutal ermordet. Kein Patton-Fan wusste zu der Zeit, wer McKune war. Zurück zum Reverend.
Die vorangegangenen Narrationsausbrüche dürften ausreichend veranschaulicht haben, in welch aussichtsloses Unterfangen sich der Held unserer kleinen Geschichte geworfen hat. Reverend Peyton lügt nicht, darauf muss man immer wieder zurück kommen: „I am a songwriter and an artist“, sagt er gerne und oft, und das stimmt ja, und was für einer auch noch obendrein! Der beste! Heute. Morgen. Gestern. Egal. Etwa 250 Mal steht The Reverend Peyton’s Big Damn Band pro Jahr auf der Bühne. Und dann geht es los. Und wie. Abschließend noch eine Zuspielung eines Rockclub-Musikarbeiters, der schon einmal das Vergnügen hatte, den Reverend samt Band auf seiner Bühne zu präsentieren. Nach einem unnötigen Jazzclub-Zwischenspiel – komplett falsches Ambiente – kehrt die Combo auf eigenen Wunsch in den Club am Gürtel zurück und macht dem Tontechniker im Rider folgende klare Ansage: „Mix it loud as fuck – think Ramones, not Simon & Garfunkel!“