Mirjam Ungers Filmschaffen ist geprägt von Perspektiven, deren Blicke auf den Fluchtpunkt in Zukunft, Vergangenheit oder Gegenwart gerichtet sind. In ihrem Spielfilmdebüt Ternitz, Tennessee (2000) träumen Nina Proll und Sonja Romei in Niederösterreich von einem Leben in Amerika. Die Doku Vienna’s Lost Daughters (2007) schildert das neue Leben acht jüdischer Frauen, die zu Beginn der Nazizeit von Wien nach New York geflüchtet sind, und Oh Yeah, She Performs! (2012) begleitet Gustav, Clara Luzia, Luise Pop und Teresa Rotschopf vom Proberaum bis zum Konzert. In Ungers neuestem Werk Maikäfer flieg, dem Eröffnungsfilm der diesjährigen Diagonale, lösen sich die zeitlichen Perspektiven auf und werden zum Symptom der Nachkriegszeit: Christine (Zita Gaier), die zentrale Figur der Geschichte, weiß vom Frieden genauso wenig wie Kinder heute vom Krieg wissen. Das titelgebende Lied über einen in den Krieg gezogenen Vater untermalt die Bilder des zerstörten Stadtteils Hernals, den Christine mit ihrer Mutter (Ursula Strauss) und ihrer Schwester verlassen muss. Sie schlagen ihr Quartier in einer Neuwaldegger Villa auf, wo auch bald der desertierte Vater (Gerald Votava) und die Besitzerin (Bettina Mittendorfer) mit ihrem Sohn dazustoßen. Die Freude über die Familienzusammenkunft währt aber nur kurz: man muss sich mit russischen Soldaten arrangieren, welche die Villa als Planungszentrale beziehen. Unter den Besatzern befindet sich der Koch Cohn (Konstantin Khabensky). Er ist aufgrund seiner Verschrobenheit und physischen Unterlegenheit der Prügelknabe einer Ansammlung unberechenbarer, gewaltbereiter Egos. Leidtragende dieser hierarchischen Strukturen ist auch Christine, die dem Zorn ihrer Mutter ausgesetzt ist. Ihr Leid teilend, befreunden sich das Mädchen und der Koch.
Im Stil des gleichnamigen autobiografischen Romans Christine Nöstlingers aus 1973 erzählt Mirjam Unger die Geschichte ausschließlich aus der Sicht Christines und interpretiert ihre Störrigkeit als Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit. Über diesen Weg verhindert die Regisseurin, die Umstände als Rechtfertigung oder Erklärung zu verstehen, vielmehr sieht sie in Christines kindlicher Sturheit den Appell an die Menschenwürde. Der Film versucht auch der Paradoxie des alten Volkslieds gerecht zu werden, indem sich die Inkongruenz von lieblich kindlicher Melodie und verstörendem Inhalt in den ästhetischen Manierismen des Filmes manifestiert: Die konstante Kamerabewegung lässt Christine und ihre Familie in Momenten scheinbarer Idylle nie zur Ruhe kommen, die Bildkomposition schneidet Hände und Köpfe ab, aus einer süßen Melodie wird bedrohliches Rauschen — an einen Status Quo ist nicht zu denken. Anstelle eines Ausblicks auf Vergangenheit oder Zukunft begreift der Film seine Charaktere in der liminalen Phase, welche zu ihrer Überwindung die Re-Kalibrierung der im Krieg verloren gegangenen Menschlichkeit fordert. Im Zuge dessen sind die letzten Worte des Filmes gleichzeitig Analyse und Erkenntnis: „Sachen ohne Menschen sind hässlich.“
Maikäfer flieg
Drama. Österreich 2015 – Regie Mirjam Unger
Mit Ursula Strauss, Heinz Marecek, Gerald Votava
Verleih Lunafilm, 100 Minuten
Filmstart 11. März 2016