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Megacities

Text: Oliver Stangl | Fotos:

Mit Gegenwart und Zukunft des urbanen Lebens setzt sich das dänische Designlabor SPACE10 in einem umfangreichen Band auseinander. Im Zentrum stehen dabei positive Fallbeispiele aus aller Welt.

San Francisco. Gehl Architects, Photo: Diane Bentley Raymond, The Ideal City, gestalten 2021

Die zunehmende Urbanisierung ist ein seit mehr als zweihundert Jahren anhaltendes Phänomen; 2008 lebten erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Schätzungen gehen davon aus, dass jede Woche zusätzliche 1,5 Millionen Menschen in Städte ziehen. Die Ursachen für die Landflucht sind ökonomischer und infrastruktureller Natur: Während viele ländliche Regionen – zum Beispiel durch Mechanisierung der Landwirtschaft – verarmen und kaum Erwerbsmöglichkeiten bieten, gibt es in Städten Jobs und Bildung. Freilich sind die Bedingungen in den neuen Megadstädten oft alles andere als rosig; Slums und hohe Krimininalität sind nur zwei der oftmals negativen Folgen; der Klimawandel tut das seine, um Städte besonders im Sommer zu extremen Hitzepolen zu machen. Zudem stellt sich immer mehr die Frage nach bezahlbarem Wohnraum in so gut wie jeder Metropole.

Da tut es gut, dass der vom Kopenhagener Forschungs- und Designlabor SPACE10 in Zusammearbeit mit gestalten veröffentlichte Band „The Ideal City. Exploring Urban Futures“ optimistische, aber von Fakten und Fallbeispielen untermauerte Töne anstimmt. „Städte“, heißt es da, „sind der Kern des Problems und damit auch der Kern der Lösung.“ Das „Manifest für eine hoffnungsvolle Zukunft“ setzt auf die fünf Punkte Einfallsreichtum, Teilhabe, Sicherheit, Gemeinsinn und Lebensfreude. Diese Prinzipien sollen dafür sorgen, dass Städte zu Orten werden, in denen sich möglichst alle Menschen wohlfühlen; urbane Zentren sollen – im Idealfall mittels der begrenzten, zur Verfügung stehenden Ressourcen – grüner, gesünder, nachhaltiger und wirtschaftlich produktiver werden. „The Ideal City“ stellt Projekte und Initiativen aus 53 Städten vor und versammelt Beiträge von Architekten, Mobilitätsexperten oder
UN
-Beauftragten. Es ist dabei vor allem eine Kombination diverser Ansätze sowie das Eingehen auf regionale Besonderheiten, der Erfolg konstatiert wird. Wenig überraschend nimmt der Faktor Mobilität auch hier eine zentrale Rolle ein. In der Stadt des 20. Jahrhunderts stand das Automobil im Zentrum der Städte; aktuelle Gegenbewegungen versuchen, die urbanen Zentren davon zu befreien. Statt „Cars first“ könnte es im 21. Jahrundert eventuell heißen: „People first“. Die moderne Stadt, so SPACE10, müsse sich den Menschen als Maßstab zum Vorbild nehmen: Die gesamte notwendige Infrastruktur solle innerhalb von 15 Minuten zu Fuß erreichbar sein.

CopenHill, Copenhagen. Bjarke Ingels Group, Photo: Rasmus Hjortshoj, The Ideal City, gestalten 2021

Zudem ermöglichen es neue Technologien, das wiederentdeckte Baumaterial Holz so einzusetzen, wie aktuell Beton und Stahl. Dabei würden auch Kohlendioxid und Müll reduziert. Riesige dreidimensionale Gärten inmitten großer Gebäudekomplexe – wie etwa in Singapur – illustrieren eindrucksvoll, wie hitzelindernde Biodiversität auch in sehr dicht besiedelten Gebieten funktionieren kann. Neue Formen der urbanen Landwirtschaft – hier lauten die Stichworte „Community Gardens“ und „Urban Farming“ – ermöglichen lokale Nahrungsmittelproduktion überall in der Stadt (vom Hausdach bis zur hydroponischen Farm) – und sie schaffen einen Rahmen für städtische Naturerfahrung und Begegnung. Eine 2016 als kleiner urbaner Garten gegründete Urban-Farming-Initiative in Michigan beispielsweise ist bereits auf 1,2 Hektar angewachsen. Die Farm versorgt mehr als 2000 Haushalte in der unmittelbaren Umgebung.

Die ideale Stadt priorisiert, wenn es nach SPACE10 geht, zirkuläre Prinzipien. Das bedeutet vollständig geschlossene Wasser-, Nahrungs-, Material- und Energiekreisläufe, die auch Abfall als Ressource verwenden. Ein weiterer sozialer Aspekt ist „Sharing“: Hier wird darauf eingegangen, wie sich ein Zusammenleben kommunal, aber dennoch individuell führen lässt. Außerdem soll ein fairer Zugang zu städtischen Einrichtungen, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung, Bildung, Dienstleistungen, Wirtschaft, Kultur, Freizeit, Sport und Natur gewährleistet sein.

Auch wenn die Herausforderungen enorm sind und die Überbevölkerung ein massives Problem darstellt, ist man nach der Lektüre des Bandes positiv gestimmt: Den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, muss die Großstadt der Zukunft keinem Moloch aus einem dystopischen Science-Fiction-Film gleichen; sie kann ein Ort sein, an dem viele Menschen gerne und in Würde zusammenleben.

SPACE10 & gestalten (Hg.)
THE IDEAL CITY. EXPLORING URBAN FUTURES
Hardcover, fadengebunden. 21 x 26 cm
Berlin 2021. 256 Seiten, € 36

 

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