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Mein Theater ist die Stadt

Text: Christopher Wurmdobler | Fotos: Magdalena Blaszczuk
Christophe Slagmuylder © Magdalena Blaszczuk

FAQ: Man hört, Sie seien viel zu Fuß unterwegs. Beschreiben Sie die letzten Meter Ihres Weges, wenn Sie morgens ins Büro in der Lehárgasse in Mariahilf gehen. Was begegnet Ihnen da, Herr Slagmuylder?

Christophe Slagmuylder: Ich habe eine Wohnung im 8. Bezirk gefunden und ich gehe wirklich jeden morgen zu Fuß ins Büro. Das ist jetzt nicht die Antwort auf Ihre Frage, aber wenn ich sonntags in Wien bin, mache ich meistens einen großen Spaziergang, eine Wanderung. Zuerst habe ich die Innere Stadt durchquert, ich war in der Leopoldstadt, im Dritten. Dabei starte ich immer direkt von zu Hause. Ich möchte Wien auch geografisch verstehen lernen. Ich mag nicht hierherkommen und ein Festival machen, das ich genauso in Dubai, Miami oder Amsterdam machen könnte. Natürlich wird man bei den Wiener Festwochen einige internationale Künstlerinnen und Künstler sehen, die auch auf anderen Festivals auftreten. Aber ich möchte sehen, was an Wien speziell ist – und das geht nicht innerhalb von vier Monaten. Ich bin vergangenen September hier angekommen, musste diese Ausgabe der Festwochen sehr schnell schaffen. Darum sage ich auch immer: Heuer ist es nur eine Art Skizze von etwas von dem ich hoffe, es noch weiter entwickeln zu dürfen. Eigentlich kenne ich Wien noch gar nicht. 

FAQ: Wie weit sind Sie denn schon bei Ihren Wanderungen durch die Bezirke gekommen?

Erst bis zum vierten Bezirk. Aber vergangenes Wochenende habe ich eine Ausnahme gemacht und bin durch den 16. Bezirk gegangen, und von da aus in den Wienerwald. Zufällig habe ich dann auch noch die Steinhofgründe mit der Otto-Wagner-Kirche entdeckt und bin schließlich bei der Jubiläumswarte gelandet, von wo aus man die ganze Stadt sieht. Dann ging es hinunter zur Villa Aurora und dann wieder nach Hause. Das war eine große Wanderung. 

FAQ: Hatten Sie eine Karte dabei oder gehen Sie immer einfach so drauf los?

Ich hatte eine App. Aber die Orte habe ich zufällig entdeckt. Auch die Manner-Fabrik, die glaube ich im 17. Bezirk ist. Die haben ihre Fabrik mitten in der Stadt!

FAQ: Haben Sie die Manner-Fabrik gerochen?

Es war Sonntag, da backen sie wohl nicht. 

FAQ: Abgesehen von den Wanderungen, sind sie auch oft in Wien unterwegs?

Ich gehe oft samstags auf den Yppenplatz, da gibt es den Markt und es ist nicht weit von zuhause. 

FAQ: Das klingt, als wären Sie in ihren ersten vier Monaten schon ein typischer Wiener Bobo geworden.

Das geht schnell. Ich kann nicht ein Festival planen und dabei nur dauernd in Flugzeugen sitzen. Ich muss mich selbst in die Stadt investieren. Ich liebe natürlich auch die Kaffeehauskultur. Auf dem Weg ins Büro, wenn ich sehr früh unterwegs bin, setze ich mich oft noch ins Café Sperl. Das ist ein guter Ort, den Tag zu beginnen. Es ist ruhig da, besonders um sieben, halb acht in der Früh. Es ist ein Klischee, aber ich mag die Atmosphäre. Ich versuche möglichst viele Meetings nicht im Büro zu machen, sondern in Kaffeehäusern. Im öffentlichen Raum erlebt man die Menschen anders als im Büro. Ich muss noch so viel in Wien entdecken und lernen. 

FAQ: Sie scheinen sich schon gut auszukennen.

In den ersten Wochen habe ich viele Menschen von den Kulturinstitutionen getroffen, mögliche Festivalpartner, habe mögliche Orte besucht. Zum Beispiel das Theater Hamakon im Nestroyhof. Das ist so besonders, was Geschichte und Architektur betrifft. Ich möchte ein Programm machen, das auch von solchen Orten inspiriert ist. Ich will nicht nur das Theater an der Wien oder die Halle E bespielen. 

FAQ: Aber die Festwochen müssen diese Theater nutzen, sie gehören ja sozusagen dem Festival.

Ja. Und es ist nicht immer leicht, sie zu bespielen. Das sind gute Orte, um mehr traditionelle Theaterformen zu zeigen. Aber es ist gut, das Festival nicht nur dort zu haben. Das ist ja das Schöne an einem Festival: offen zu sein.

FAQ: Geht es auch darum, den Menschen hier in der Stadt andere Orte zu zeigen?

Ja. Sonst bräuchte es kein Festival. 

FAQ: Was ist das Tolle daran, Publikum zu sein, im Zuschauerraum zu sitzen?

Das ist zwar auch ein Klischee, aber für mich geht es viel darum, an einem bestimmten Ort zusammenzukommen. Heute können wir wahnsinnig viel zu Hause erledigen. Alles kommt nach Hause, du musst dazu nur online sein. Aber mehr denn je glaube ich an die kollektive Erfahrung. Die Freude, gemeinsam Erfahrungen zu sammeln, ist so wichtig. Miteinander Zeit in einem Raum zu verbringen, macht Theater so einzigartig. Ich schaue mir auch gerne Ausstellungen an, aber das ist ein Parcours, den du für dich selbst machst, in deinem eigenen Rhythmus. Im Theater entscheidest du nicht, wann es beginnt, wie es weitergeht, aber die kollektive Erfahrung mag ich sehr. Wenn ich das jetzt auf ein Festival übertrage, geht es mir darum, dass man als Zuschauerin oder Zuschauer nicht nur eine Produktion sieht, sondern die Möglichkeit hat, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes zwei, vier, fünf, zehn unterschiedliche Positionen zu erleben, Verbindungen herzustellen. Klar, das macht man vielleicht auch mit einem Theaterstück, das man im September sieht und einem, das man im März sieht. Aber ein Festival schafft eine Art Dialog, der für mich und hoffentlich auch für das Publikum sehr produktiv ist. Man entdeckt Neues, Unterschiede, verlässt die Hauptwege und findet eigene Nebenstraßen, kehrt zurück. Ein bisschen ist das wie bei meinen Stadtwanderungen durch Wien. 

FAQ: Fans von Filmfestivals wie der Viennale sprechen oft von einem Rausch, wenn sie drei, vier Filme am Tag sehen. Können die Wiener Festwochen dieses Festivalgefühl herstellen?

Wir versuchen es. Zum Beispiel mit Ermäßigungen, wenn man sich mehrere Stücke anschauen will. Das sind auch Versuche, das Festival ein wenig demokratischer zu machen. 

FAQ: Eine Art Festival-Pass?

Noch nicht ganz, aber wer weiß, vielleicht kommt das eines Tages.

FAQ: Gerade lernen Sie die Stadt kennen. Kennen Sie denn schon Ihr Publikum?

Noch nicht. Die große Herausforderung für mich ist, das Festwochen-Publikum zu diversifizieren. Der Raum des Festivals soll aus den unterschiedlichsten Leuten öffnen, es soll sich nicht nur an eine bestimmte Gruppe richten. Seit ich hier bin höre ich immer wieder „Oh, das Festwochenpublikum wird das nicht mögen.“ Wer ist dieses Festwochenpublikum? Ich hoffe, dass wir unterschiedlichstes Publikum haben werden, das aber zusammenkommt, weil es bestimmte Aspekte des Programms interessant findet. Unser zweitägiges Projekt in der Donaustadt ist ein Versuch, neues Publikum anzusprechen, wir wissen nicht, ob es funktioniert. Leute, die das Festival kennen, holen sich das Programmbuch. Aber die Menschen dort müssen direkt angesprochen werden, mit Plakaten, Anzeigen. Es gibt auch einige Projekte bei freiem Eintritt, eine große Eröffnungsparty. Möglicherweise kommen die Leute da nicht, um Milo Rau zu sehen oder Angélica Liddell. Aber sie haben vielleicht ihr eigenes Festwochen-Erlebnis. Die große Kritik lautet ja immer, was wir tun, sei elitär. Vielleicht besteht diese Elite ja auch aus ganz unterschiedlichen Eliten, jungen Spezialisten in Dingen, von denen ich persönlich gar keine Ahnung habe zum Beispiel.

FAQ: So wie Sie das Zusammenkommen unterschiedlicher Menschen in einem Theatersaal beschrieben haben: Wollen Sie so auch das Festival-Publikum zusammenbringen?

Ja! Und ich weiß, dass es sehr utopisch klingt. Aber genau darum mache ich diesen Job. Ich mache es mir mit meinem Programm nicht leicht, indem ich Kompromisse eingehe, um möglichst viel Publikum zu bekommen. Ich glaube, dass wir zu bestimmten Ideen stehen, aber gleichzeitig das Festival einladender machen müssen. Künftig möchte ich noch mehr Workshops anbieten, Projekte mit Schulen, städtischen Einrichtungen. Künstlerinnen und Künstler sollen nicht nur ihre Arbeiten präsentieren, sondern mit den Leuten auch ihre Arbeitsprozesse teilen. Das bedeutet nicht, dass wir das Programm einfach unterhaltsamer machen. Nein. Junge Menschen sollen kommen, um das zu erleben, von dem ich glaube, dass sie es erleben sollten. Man muss das Programm der Festwochen für kein spezielles Publikum adaptieren. Das mag utopisch klingen, aber ich möchte Versuchen, die Dinge ein wenig zu öffnen.

FAQ: Mit welchen Strategien?

Zum Beispiel durch Kollaborationen mit anderen Institutionen. Wie etwa Festival-Künstlerinnen und Künstlern, die im Kunsthistorischen Museum Wien Führungen machen oder eine Meisterklasse im Österreichischen Filmmuseum. Ich habe es immer schon gemocht, mit unterschiedlichen Künst-lergenerationen zu arbeiten. Ein Künstler wie Krystian Lupa, der eine lange Geschichte hat – ich finde es wichtig, dass junge Menschen seine Arbeit sehen, weil sie heute sehr relevant und zeitgenössisch ist. Daneben stelle ich etwa Wichaya Arta-mat, einen 23-jährigen Künstler aus Bangkok, der erstmals in Europa ist. Genau diese Dialektik der Generationen macht das Festival lebendig. Es geht nicht bloß um Kunstwerke. Ein Festival sollte wie ein menschlicher Körper sein, aus Fleisch, Blut, Menschen. Mein Job ist, den Austausch zu organisieren. Ein Festival ist ein lebendiger Organismus. Wie eine Stadt.

FAQ: Die Wiener Festwochen dauern fünf Wochen …

… und sechs Wochenenden! Darum versuchen wir auch, eine gewisse Dramaturgie zu finden. Es gibt drei zentrale Orte, die nacheinander bespielt werden: die Donaustadt, dann ziehen wir weiter Richtung Zentrum und dann in den 10. Bezirk; wir sind also ein bisschen wie Nomaden. Es gibt zwei Festwochen Bars – erst die Rote Bar im Volkstheater für zwei Wochen und dann in den Gösserhallen. Einige Projekte werden erst in der Donaustadt gezeigt und dann an anderen Orten in der Stadt.

FAQ: Haben die drei Phasen des Festivals unterschiedliche dramaturgische Labels?

Nein, das ist nicht meine Art zu arbeiten. Wenn ich ein Programm gestalte, entstehen die Verbindungen zwischen den einzelnen Programmpunkten oft überraschend, ohne dass das zu Beginn intendiert war. Es ist ein Puzzle. Die ersten Teile liegen erst einmal irgendwie da und du weißt noch nicht genau wie das Ganze am Ende aussehen wirst. Erst wenn du alle Teile zusammengefügt hast, ergeben sie ein großes Bild. Im Mai sind Europa-Wahlen, politisch ist das ein entscheidender Moment für den Kontinent. Und wenn ich jetzt unser Programm ansehe, dann befassen sich sehr viele Projekte mit der Frage des Populismus, es geht um bestimmte Formen von Konservatismus, Zensur. Dabei habe ich mir zu Beginn nicht vorgenommen, zu diesen Themen ein Festival zu machen. 

FAQ: Die Themen lagen in der Luft?

Ich bin wie ein Sensor, eine Antenne um das zu empfangen, womit sich viele Künstlerinnen und Künstler derzeit beschäftigen. Aber ich werden ihnen nicht sagen, dass sie sich in ihren Projekten mit diesem oder jenem auseinandersetzen müssen. Ich finde, der Rolle des Kurators wird manchmal zu viel Raum gegeben. Wir brauchen eigentlich nur ein gutes Gespür, um die Verbindung zwischen Kunst und Publikum herzustellen. Oft ist da zu viel Diskurs und zu wenig Erlebnis.

FAQ: Sie haben jahrelang in Brüssel ein Festival geleitet und dort nur Eigen- und Koproduktionen gezeigt. Haben die Festwochen das Budget, Dinge zu ermöglichen?

Künftig werden wir noch viel mehr Auftragswerke zeigen, neue Arbeiten in neuen Kontexten, an neuen Orten ermöglichen. Das Tolle ist, dass ich nicht für ein Theater programmieren muss. Mein Theater ist die Stadt. Ich kann immer von den Ideen der Künstlerinnen und Künstler ausgehen, nicht von den Möglichkeiten einer bestimmten Bühne.

Wiener Festwochen 

10. Mai bis 16. Juni 2019

www.festwochen.at

 

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