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Memory Box

Text: Pamela Jahn | Fotos: Panda Lichtspiele

Was soll nur aus uns werden? Und was bleibt in der Erinnerung? Mike Mills’ neues Drama ist ein kleiner Film über die ganz großen Fragen, auf die es keine richtigen oder falschen Antworten gibt.

Mike Mills und Joaquin Phoenix am Set von „C’mon C’mon“ 2021

Die Erinnerung macht mit uns, was sie will. Sie ist eine unzuverlässige Größe. Was wir gestern erlebt haben, ist in unseren Köpfen heute nur noch eine Vorstellung, eine Interpretation, manchmal ein Wunsch, im schlimmsten Fall ein Alptraum. Das Schöne an der Erinnerung ist, dass sie nicht nur trügt, sondern auch glücklich machen kann – sie ist immer Freud und Leid zugleich. So wie vieles im Leben.
Wie fragil und fließend, verwirrend und bezaubernd die Bilder und Gefühle sind, die sich in unserem Kopf, nein, im ganzen Körper festsetzen, davon erzählen die Filme von Mike Mills, einer klüger und warmherziger und ehrlicher als der andere. Mills macht Kino aus der eigenen emotionalen Erinnerung heraus. Seine Filme enthalten Rätsel, die er sich selbst stellt. Sie handeln von Personen, die ihm nahestehen, und trotzdem üben die Geschichten, die er erzählt, einen universellen Sog aus, dem man sich nur schwer entziehen kann. In Beginners versuchte er sich mit seinem Vaterbild auseinanderzusetzen. Der Nachfolger 20th Century Women beschrieb die Geschichte einer Ablösung von Mutter und Sohn, in der sich der oscarnominierte Independent-Regisseur auf die Frauen berief, die ihn in seinem eigenen Leben geprägt haben.

Sein neuer Film, vielleicht der schönste überhaupt, handelt nun von der Beziehung zu seinem Sohn, auch wenn Mills sich darin lieber indirekt in die Onkelrolle zurückzieht. Zum Selbstschutz, und um dadurch die nötige Distanz für eine reflektierte Auseinandersetzung zu schaffen. C’mon, C’mon, im Wesentlichen ein Zweihänder zwischen Johnny (Joaquin Phoenix) und seinem neunjährigen Neffen Jesse (Woody Norman), ist ein Glücksfall in Schwarz-Weiß, der angesichts des Verzichts auf Farbe seinen Figuren um so intensiver auf den Zahn fühlt, bis ganz unten, da wo es wehtut. Zunächst müssen die beiden Eigenbrötler aber erst einmal zueinanderfinden, denn Johnny und Jesses Mutter Viv (Gaby Hofman) haben zu Beginn des Films ein ziemliches Problem: Zwischen den Geschwistern herrscht Funkstille, seit sie vor einiger Zeit über den richtigen Umgang mit ihrer an schwerer Demenz leidenden Mutter in Streit geraten sind. Mittlerweile ist diese verstorben, aber jetzt muss sich Viv dafür dringend um Paul (Scoot McNairy), Jesses psychisch labilen Vater kümmern, der sich nach Oakland abgesetzt hat. Weil sie allein fahren muss, braucht sie jemanden, der solange auf den Jungen aufpassen kann – und Johnny bietet sich an.

Immerhin ist der Radiojournalist, der sich unlängst von einer langjährigen Partnerin getrennt hat, gerade auch beruflich mit einem Projekt beschäftigt, bei dem Kinder im Zentrum stehen. Er soll mit einer Kollegin durch die Staaten reisen, um anhand von Interviews mit den Jugendlichen vor Ort ein Stimmungsbild zu erstellen, darüber, was es für sie bedeutet, heute als Teenager in Amerika zu leben, wovon sie träumen und was sie sich von der Zukunft erhoffen. Fragen, wie sie sich die Welt von morgen vorstellen, ob sie einsam sind, traurig oder wütend, stehen um Raum, und die Antworten der jungen Menschen bilden einen wichtigen Kontrapunkt im Film. „Amerika ist ein Trauerspiel“, sagt ein Mädchen, das Johnny befragt, gleich zu Beginn. Denn neben dem Privaten geht es bei Mills immer auch um das große Ganze. Wie ein verdeckt ermittelnder Anthropologe geht er es an, die sozialen und kulturellen Einflüsse zu untersuchen, die uns zu dem gemacht haben, was wir sind.

Wer Johnny ist, erfährt der Zuschauer im Verlauf der Handlung, die Onkel und Neffe gemeinsam auf eine räumliche wie emotionale Reise schickt. Denn trotz aller noch so gutgemeinter Ersatzvaterpflichten ruft die Arbeit in New York, also nimmt Johnny Jesse kurzentschlossen an die Ostküste mit. Was dann passiert, ist vielleicht am ehesten als Versuchsanordnung zu beschreiben, denn die beiden Männer haben es miteinander nicht immer leicht. Jesse, der sich gerne in Rollenspiele flüchtet, wenn ihm die Welt zu viel wird, und der selbst jede Menge Fragen hat, bringt seinen gutmütigen Aufpasser zunehmend aus dem Gleichgewicht. Phoenix, der sich für seine erste Rolle nach dem enormen Hype um seinen Auftritt in Todd Phillips’ Joker keine bessere Rolle hätte wünschen können, spielt herrlich zurückgenommen, ohne jemals an Profil einzubüßen. Die neugewonnene Verantwortung für einen anderen Menschen steht und tut Johnny, der immer etwas zerzaust wirkt und eingangs Schwierigkeiten damit hat, seine eigenen Gefühle offen zu zeigen, gut …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 64

 

COME ON, COME ON / C’MON, C’MON
Drama – USA 2021 – Regie/Drehbuch: Mike Mills
Kamera: Robbie Ryan, Schnitt: Jennifer Vecchiarello
Musik: Aaron Dessner, Bryce Dessner, Ton: Craig Berkey
Mit: Joaquin Phoenix, Woody Norman, Gaby Hoffmann, Scoot McNairy, Molly Webster, Jaboukie Young-White, Deborah Strang
Verleih: Panda Lichtspiele, 108 Min.
Filmstart: 25 März 2022

Mike Mills und Joaquin Phoenix am Set von C’mon C’mon, 2021

 

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