Sechsunddreißig Jahre ist es her, dass die die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl Europa erschütterte. Vor knapp einen Monat wurden Atomenergie und Gas trotz aller gegensätzlichen Bestrebungen von der europäischen Kommission als „grüne Brückenenergien“ eingestuft. Und vor nicht einmal zwei Wochen, am 24. Februar 2022, marschierte Putin in der Ukraine ein und macht uns Europäer nicht nur durch die schiere Grausamkeit eines Krieges befangen, sondern hält uns auch unsere verzwickte Energie-Abhängigkeit in gewaltsamster Form vor Augen. Die Frage nach Energie, und was wir dafür in Kauf sind zu riskieren oder hinzunehmen ist also brennender denn je und wirft schon lange aufgeschobene Diskussionen in den Raum.
Die russische Künstlerin Anna Jermolaewa gibt die Antworten von der anderen Seite und zeigt eine Welt, wie sie ist, wenn das Unverhoffte schon längst geschehen ist. Die wiederaufgenommene und ergänzte Fotoschau „Chernobyl Safari“ zeigt die Leere, die entsteht, wenn der menschliche Eingriff in eine Landschaft in unwiederbringlicher Weise geschehen ist und die übrige Existenz sich selbst überlassen bleibt. Es ist ein Raum, der im Grunde unvorstellbar ist. Eine von Menschen erzeugte Menschenlosigkeit, die eine Dystopie abzeichnet, in der wir uns nicht mehr wiederfinden können: die 30-Kilometer-Sperrzone rund um Tschernobyl bleibt aufgrund der Strahlenbelastung vermutlich für tausende Jahre nicht bewohnbar.
Die Kraft von Atomenergie und ihr desaströses Potenzial bestätigt uns mit Katastrophen wie Tschernobyl die Tatsache, inwiefern die Menschheit durchaus die Stärke hat, ihren eigenen Planeten bewusst zu zerstören. Gleichzeitig zeigt das Projekt von Jermolaewa aber auch die Doppelbödigkeit und Reibung, die etwa im naturphilosophischen Begriff der Tiefenökologie steckt und oftmals kritisiert wird: Obwohl uns das Potenzial unserer eigenen Weltzerstörung bewusst ist, sollen wir diese Sonderstellung nicht berücksichtigen, wenn es um die Gleichwertigkeit mit anderen Lebewesen geht, wo doch ökologisch gesehen der Planet ohne den Menschen eine bessere Zukunft hätte. Eine unauflösbare Ambivalenz, die sich in Jermolaewas Fotografien widerspiegelt: Die vom Menschen zerstörte Welt, die dann doch aufgrund der Abwesenheit des Menschen sich einen ökologischen Raum ganz selbstverständlich zurückerobert.
Die Art und Weise wie Anna Jermolaewa diese uns innewohnenden Widersprüchlichkeiten aufzulösen versucht, zeigt sich auch in ihrer künstlerischen Herangehensweise. Die Fotos sind keine reinen Dokumentationen einer stillgelegten und unbewohnten Welt, sondern spielen auch mit den Sujets und Fantasien, die der Mensch erschaffen hat, um sich von seiner Verantwortung zu lösen und Katastrophen wie Tschernobyl fast schon etwas Fantastisches zuzuschreiben. So zeugen die Bilder Jermolaewas nämlich auch von den Mythen über mutierte und radioaktiv verseuchte Mutanten, die sich gebildet haben sollen und erzeugt somit eine Reaktion auf die postapokalyptischen Utopien, die im Laufe der Jahrzehnte über die Tschernobyl-Welt gespannt wurden. Im gleichen Atemzug beschreiben die Bilder aber auch Rückzugsorte, die sich hier völlig unverhofft für viele Wildtiere gebildet haben.
Schlussendlich bleib dennoch das lauernde Unheimliche als Grundgefühl bestehen, das uns hinter unserer heil-gedachten Welt, in Ohnmacht versetzt. Die Vorstellung das in unserem kontrollierten Umfeld ein derartig Unkontrolliertes eintritt erstarrt große Teile der Gesellschaft auch dieser Tage in Anbetracht eines Kriegs in Europa in unbestimmte Regungslosigkeit. Deshalb stellt Jermolaewa unvermittelt auch die Frage danach, wie wir uns Handlungsmacht zurückholen können, wenn wir uns mit Mächten konfrontiert sehen, die den Handlungsrahmen einer Einzelperson überschreiten. Und die simple und doch plumpe Antwort bleibt weiterhin: Den Mund aufmachen. Egal ob im kleinen Kreis oder auf großangelegten Klima-Demonstrationen. Die einzige Verantwortung, die dem Einzelnen bleibt, ist seinen Kontext zu nutzen und seine Freiheit für Dinge zu gebrauchen, die in ihrem:seinem Aktionsbereich liegen.
Genauso tut es auch Anna Jermolaewa, die von 9. März bis 5. Juni 2022 im MAK zu ihrer erstmals 2015 auf der Biennale in Kiew ausgestellten und 2021 durch eine nochmalige Reise in dem Gebiet ergänzten Einblicke ihrer „Chernobyl Safari“ zeigt. Die Ambivalenzen, die Jermolaewa hier erzeugt, sind solche, die gerade durch die aktuelle Lage nochmals in ihrer Relevanz bestärkt werden. Die Ohnmacht, die uns umschließt, bleibt doch im Kern das notwendige Gefühl für die Handlungen, die daraus folgen.
Anna Jermolaewa
Chernobyl Safari
9. März – 5. Juni 2022
MAK, Stubenring 5, 1010 Wien
www.mak.at