Dass der renommierte Verlag Taschen wunderschöne Bücher herausgibt, ist keine neue Erkenntnis. Dass aus dem ebenso exquisiten wie umfangreichen Taschen-Portefeuille nochmals die wuchtigen SUMO-Bände – Glanzstücke der gegenwärtigen Buchdruckerkunst – herausragen, ist auch nicht allzu unbekannt. Bei der neuen Veröffentlichung aus der SUMO-Reihe drohen allerdings die Superlative auszugehen, denn Thomas Lairds „Murals of Tibet“ ist ein wahres Wunderwerk, das zu den großartigsten Publikationen des Hauses zählt. Das 23 Kilo schwere Buch, das sich den Wandgemälden in buddhistischen Tempeln und Klöstern Tibets widmet, ist nicht nur ein hochpreisiges Sammlerstück, sondern besitzt gleich auf mehreren Ebenen kulturelle Signifikanz.
Die Geschichte von „Murals of Tibet“ begann im Jahr 2010, als Benedikt Taschen die Tibet-Fotografien Thomas Lairds sah und Interesse an einer Publikation bekundete. Um den Details der Wandgemälde gerecht zu werden, schlug Laird das SUMO-Format vor. Nachdem Verleger und Fotograf sich einig waren, landete man einen ganz besonderen Coup: Der Dalai Lama persönlich gab dem Projekt seinen Segen und signierte 998 der Bücher. Das geistige Oberhaupt der Tibeter hatte nämlich erkannt, dass das Buch dazu angetan ist, die zum Weltkulturerbe zählenden Wandmalereien für zukünftige Generationen zu bewahren. Denn die Murals werden höchstwahrscheinlich in den nächsten Jahrhunderten – trotz aller konservatorischer Bemühungen – verschwinden. Als Gegenzug für die besonderen Autogramme hat Taschen sich verpflichtet, eine Spende an das Mind & Life Institute zu entrichten, das sich für den Dialog von moderner Wissenschaft und kontemplativen Praktiken und Weisheitstraditionen einsetzt. Und noch ein Coup gelang: Den zerlegbaren Buchständer, der den „Murals“ beiliegt, hat kein Geringerer als der japanische Stararchitekt und Pritzker-Preisträger Shigeru Ban entworfen. Die Fotografien der Kunstwerke lassen sich also in gebührender Weise studieren.
Hochlandvisionen
Was macht nun den Reiz des Inhalts aus? Da ist zunächst die Aura des zentralasiatischen Landes selbst: Tibet, das seit 40.000 Jahren von Menschen besiedelte Dach der Welt, fasziniert westliche Reisende seit jeher mit seiner Spiritualität und Mystik, wobei besonders letzteres Element durch die räumliche Abgelegenheit noch verstärkt zu werden scheint. Neben den prächtigen Gewändern und dem oft geheimnisvoll wirkenden Brauchtum sind es ganz besonders die Mönche, deren meditative Übungen Neugier auf sich ziehen.
Solcherlei Aspekte sind auch in den Wandgemälden sichtbar – sie wirken wie Visionen, die einen Blick in andere Welten und Bewusstseinszustände erlauben. „Murals of Tibet“ eignet sich sowohl als Führer durch geistige als auch durch physische Landschaften, denn das Buch ist wie eine Reiseroute strukturiert, die in Drathang beginnt und zu den wichtigsten Klosteranlangen Zentral- und Westtibets führt. Während im SUMO selbst nur die Fotografien abgedruckt sind – denen man sich somit ungestört hingeben kann – versorgt ein aufschlussreicher wissenschaftlicher Begleitband den Leser mit (kunst-)historischen Daten sowie ausführlichem Hintergrundwissen zum tibetischen Buddhismus.
Sehr schön werden im Band die Unterschiede zu westlicher Kunstbetrachtung offenbar: In Tibet gilt Malerei (die viele Einflüsse aus Indien und China aufnahm, wie Heather Stoddard im Text „On the Origins of Style in Tibetan Art“ verdeutlicht) als lebendige spirituelle Unterweisung. Folgerichtig prägen Themen wie der Kreislauf von Leben und Tod, die Pracht der Schöpfung und die Darstellung meditativer Übungen die Tempelwände. Angesichts eines feindseligen, kalten Universums, in dem der Mensch sich schnell alleingelassen fühlt, spendeten und spenden die farbprächtigen Kunstwerke mit ihrer fantastischen Symbolik spirituellen Trost, wie es Robert Thurman in seinem Text „The Legendary Genesis of Tibet“ formuliert: „The Tibetan murals present a surface that embraces us and heals us, confronting us where we are while opening doorways for us into healing.“
Faszinierend auch der Umstand, dass die tibetischen Murals nicht einfach „Graffiti“ sind, die auf beliebige Wände appliziert wurden: Cameron Baileys Aufsatz „Materials and Techniques“ macht klar, dass das Material der Wände speziell für den Zweck der Bemalung angefertigt wurde. Das Trägermedium und die Botschaft gehen also eine Einheit ein (und entsprechen somit dem buddhistischen Gedanken von Harmonie). Auf die Größe kommt es dabei nur bedingt an, denn die Wandmalereien bedecken oft ganze Säle, manchmal aber auch nur kleine Wandtafeln.
Unter den zahlreichen religiösen Stätten des Buchs findet sich etwa das Kloster Gongkar Chöde (1464), das aus der Blütezeit der Gelug-Schule stammt: Die Wandmalereien sind Beispiele des Khyenri-Stils und wurden von Khyentse Chenmo, einem der größten Künstler Tibets, geschaffen. Nicht minder eindrucksvoll gibt sich Jokhang (633), der erste buddhistische Tempel, der Gemälde aus dem 10. und 11. Jahrhundert aufweist. Auf den Lukhang-Tempel (1700) – die „Sixtinische Kapelle“ des Dalai Lama – wurde selbstverständlich ebenfalls nicht verzichtet. Hier befindet sich etwa ein Triptychon mit Wandmalereien, die Yoga- und Meditationstechniken darstellen, die auf keiner anderen Wandmalerei Tibets zu sehen sind.
Thomas Laird kam für seine Arbeit ein technologischer Quantensprung zupass: Lange Zeit war es aufgrund der beengten Räumlichkeiten nicht möglich, 1:1 Bilder der Kunstwerke in adäquater Ausleuchtung zu fotografieren. Laird nutzte ab 2009 die Multishot-Technik, um gleichmäßig ausgeleuchtete Abbildungen der Wandmalereien in Originalgröße zu erzielen. So erzählt der Band auch vom Zusammentreffen eines uralten und eines neuen Mediums. Ein Erlebnis (und, allen spirituellen Aspekten zum Trotz: eine Wertanlage).
Thomas Laird. Murals of Tibet
Mit Texten von Thomas Laird, Robert A. F. Thurman, Heather Stoddard, Jakob Winkler. Designer: Shigeru Ban. Hardcover signiert vom Dalai-Lama, 50 x 70 cm, 498 Seiten mit 6 Ausklappseiten, einem zerlegbaren Buchständer von Shigeru Ban und einem illustrierten 528-seitigen wissenschaftlichen Begleitbuch.
Taschen Verlag, Köln 2018. € 10.000