Mit dem Sommer wird nicht selten die fast schon sprichwörtliche Zeit des Nach- und Aufholens verbunden, jetzt endlich kann man sich den angesammelten Stapeln widmen. Damit die Vielzahl der freundlich zurückgestellten, der aufgesparten Bücher im Rahmen des kulturellen Nachholbedarfs auch ja nicht zu knapp ausfällt, soll hier nun auf drei Empfehlungen eingegangen werden, die durchaus als urlaubstauglich (wenn wir das als Qualität anerkennen wollen und können) durchgehen: William T. Vollmanns gleichermaßen gigantisches wie gewagtes Epos „Europe Central“ erzählt vom Aufeinanderprallen totalitärer Regime. Anhand eines prominenten Ensembles historischer Figuren und verschiedenster Erzählstränge setzt Vollmann das nationalsozialistische und das stalinistische System in Verhältnis zueinander. Die verschiedensten Erzählstränge werden zu einem chronologisch organisierten Panorama verflochten, das nicht zuletzt auch als Parabel über das Spannungsverhältnis von künstlerischer Selbstbestimmung und politischem Auftrag erfahrbar wird. Die schon im Titel anklingende Schaltzentrale der Moderne wird bei dem US-amerikanischen Autor zur Möglichkeit, unseren Umgang mit Geschichte zu befragen – und nicht zuletzt die Gemachtheit von Historie (unter Nutzung literarischer Freiheiten) ansprechend darzustellen. Vollmanns großangelegter Versuch, der wenig zufällig als sein Hauptwerk gilt, lässt sich auch als Reflexion über die Möglichkeiten von Literatur verstehen. „Europe Central“ ist mit all seinen Fußnoten, Kommentaren und Anhängen ein sorgfältig recherchierter, doch keineswegs schwerfälliger Text.
Siri Hustvedt schlägt mit ihrem jüngsten Essayband „Leben, Denken, Schauen“ einen deutlich anderen Weg ein: Den Prozess literarischer Schöpfung beschreibt sie als einen traumähnlichen Zustand, eine paradoxe Mischung aus Entrücktheit und Klarheit. Die in dem Band versammelten, disziplinübergreifenden Beiträge führen erneut die Eleganz und Präzision dieser Ausnahmeautorin vor Augen. Gemäß dem Titel widmet sie sich in drei Hauptabschnitten autobiografischen Fragen, der Arbeit des Schreibens und den Betrachtungsweisen künstlerischer Werke. Die intensive Auseinandersetzung bringt Hustvedt dabei immer wieder auch, ganz der Form des Essays gemäß, zum eigenen Selbst zurück.
Erkundungen dieser Art sind auch für Ferdinand, den Protagonisten von Joann Sfars Comicserie „Vampir“, wesentlich. Auf den ersten Blick ist er ein durchschnittlicher Unglücksvogel, auf den zweiten entpuppt er sich als scheues Monster mit durchaus menschlichen Problemen und Sorgen: Er hat seine Geliebte beim Seitensprung ertappt, er ist einsam und mutlos, jede noch so vielversprechende neue Begegnung endet in einem Desaster. Er hat zu viele von seinen Büchern verborgt, muss sich um eine eigenwillige Katze kümmern, er schwimmt, um seine chronischen Rückenprobleme in den Griff zu kriegen. Ferdinand versteht seine Mitmenschen nicht, die Frauen nicht – und die Liebe schon gar nicht. Sfars Antiheld ist eine tragikomische Figur, die dankenswerterweise mehr von Murnaus Nosferatu denn von den moralinsauren Entwürfen à la Twilight geprägt ist. Dass der vorliegende Sammelband seiner Abenteuer in knalligem Sonnengelb gehalten ist, verwundert dabei im allerbesten Sinne nicht.
William T. Vollmann
Europe Central
Suhrkamp Verlag, Berlin, EUR 41,10
Siri Hustvedt
Leben, Denken, Schauen. Essays
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, EUR 25,70
Joann Sfar
Vampir
Avant-Verlag, Berlin, EUR 30,80