Die berühmte Colette, selbst Romanautorin, hatte als Redakteurin einmal auf den jungen Simenon, von Beginn an ein unersättlicher Vielschreiber, nachhaltigen Einfluss ausgeübt: Sie lehnte ein Manuskript ab – „viel zu literarisch“–, er mache viel zu viele Wörter, viel zu schöne obendrein. Simenon nahm sich die Ermahnung zu Herzen, fortan bestand seine Kunst darin, die vielen tausend Wörter, mit denen er Umgang hatte, einzudampfen zu jenem Repertoire von vielleicht sechshundert, die der durchschnittliche Leser seiner Zeit in Gebrauch hat. Deren Bedeutung ist ihm vertraut, welche Bilder und Atmosphären seine eigene Vorstellungskraft daraus auch immer entwirft. Bei Korrekturen strich der junge Simenon also jene besonders schönen, effektvollen Sätze, die auf der Zunge zergehen, erbarmungslos heraus; seine Prosa sollte sein, „wie von einem Kind geschrieben“. Simenon, dessen Stil-Ideal die Einfachheit Tschechows war, Gogol, Dostojewski, Faulkner, verzichtete auf überflüssige Komplikationen, vermochte komplexe Dinge in Alltagswörtern mitzuteilen. „Er verschmähte den Glanz der Metapher“, so Georg Hensel 1989. „Wenn er schrieb ‚es regnete‘, roch man den nassen Staub auf dem Pflaster und spürte die Nässe im Genick. (…) Seine Einfachheit ist nicht simpel, sie ist klassisch.“
Grenzenloses Verständnis
Der Welterfolg Simenons wäre ohne weiteres plausibel, hätte er sich trivialer Muster bedient: Heldenfiguren zur Identifizierung; Exotik und Luxus, Ausschweifungen der Leidenschaft und Gefahr; Pseudokonflikte einer konventionellen Plot-Dramaturgie, nur dazu da, sich am Ende harmonisch aufzulösen. Erst 1930 – Simenon, der zuvor in über 300 Erzählungen, Romanen und Reportagen den „Gips angerührt“ hat, wie er es nannte, ist 27 – erscheint der erste von über hundert Romanen – „Pietr-le-Letton“ (dt.: „Maigret und Pietr, der Lette“) – mit dem pfeiferauchenden Kommissar, der sich mehr für den Verbrecher als für das Verbrechen interessiert und den Täter eher versteht als verurteilt. Simenon stattet ihn aus mit einer grenzenlosen Sympathie für Menschen und ihre Geschichten. Der reflektierte, mit spürsicherem Instinkt ausgestattete Kriminalist, viel eher Therapeut, der Ursachen, Triebkräfte, Leidenschaften erforscht, als ein jagender Polizist, begann ein Eigenleben zu entfalten, und heute scheint jede Ermittlerfigur, wenn sie denn genug gewachsenes, nicht aufgesetztes soziales Gewissen, ein wenig kritische Intelligenz und einen Sinn für die hintergründige Tragik von Menschenbeziehungen besitzt, mehr oder weniger entfernte Affinitäten mit jenem großen, kräftigen Mann um die fünfzig aufzuweisen, für gewöhnlich umgeben von seinen Inspektoren in seinem Büro am Quai des Orfèvres 36, mit der Vorliebe für gezapfte Biere, das Glas Weißwein am Vormittag und regelmäßige Mahlzeiten, verwöhnt überdies von den Kochkünsten Madame Maigrets (Anm.: Es gibt ein Kochbuch). Maigrets Element ist der Routinefall in einem Routine-Roman, und in dem kann sich der Leser wiedererkennen. Nur keine Originalität. Jedoch: „Ein normaler Kommissar ist er nicht. Es ist, als wären ihm die Regeln des Berufes fremd“, so François Bondy. „Er ermittelt nicht eigentlich, sondern saugt sich mit der Atmosphäre voll wie ein Schwamm und versteht alles intuitiv. Besonders auch den Täter, mit dem er sich identifiziert, oder doch sympathisiert.“ Und immer bleibt ein Rest, an Rätseln der Motive und Beweggründe, der Aufklärung entzogen. Martin Meyer hat es in seinem Nachruf auf Simenon „Von der Not des Menschen“ (NZZ, 7.9.1989) auf den Punkt gebracht: „Und Maigret? Da hatte der Schriftsteller einen genialen Griff getan. Denn es stimmt nicht, dass der Kommissar den Mittelpunkt bildet. Er ist nur das Medium. Alles geht durch ihn hindurch; alles wird von ihm gespeichert. Fast grenzenlos mutet sein Verstehen, sein Verständnis an. Äußerlich aber repräsentiert er den Durchschnittsbürger, der sich am Sonntag auf den Braten und gegen Abend auf einen Calvados freut. Trügerische Idylle. Maigret gehört dem Schattenreich an. Der Beobachter des Fatalen und des Gewöhnlichen ist ein Todesbote.“ …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe
In einer Kooperation der Verlage Hoffmann und Campe und Kampa sollen bis Ende 2020 alle 75 Maigret-Romane sowie 28 Erzählungen erscheinen.
Ab Herbst 2019 beginnt die Edition aller Maigrets als Taschenbuch im Atlantik Verlag. Als Hörbücher – gelesen von Walter Kreye – erscheinen sie bei DAV- Der Audio Verlag.
Pro Halbjahr erscheinen 5-6 der großen Romane sowie ausgewählte autobiographische Texte im Hoffmann und Campe-Verlag und bei Kampa, in zahlreichen Neuübersetzungen und mit Nachwörtern versehen.