Auch wenn man nicht zu denen gehört, die gleich an Baguette, Eiffelturm und Bateaux-mouches denken, wenn sie „Paris“ hören, verbindet man mit der Stadt der Lichter wahrscheinlich nicht gerade das lebendige Treiben eines wilden, hippen und Trend-settenden Untergrunds. Vom Louvre über die Champs Elysées bis zum Centre Pompidou gibt es ausreichend andere Assoziationen, die die Metropole im Großen und Ganzen in ein eher betulich-betuchtes Eck rücken. Dass die Stadt auch anders kann, liegt aber irgendwie auf der Hand – schließlich wird sie ja nicht nur von den Sarkozys, von Catherine Deneuve, Karl Lagerfeld und Peter Handke besiedelt.
Vor ungefähr zehn Jahren begann sich in Paris eine Szene zu formieren, die es in sich hatte. Um die Hauptstadt, das ergibt sich aus der Geschichte eines seit Jahrhunderten völlig zentralisierten Landes, kommt nicht herum, wer es in Frankreich zu etwas bringen möchte. Egal in welchem Zusammenhang, die Schlüsselpositionen werden am Parnasse besetzt – wie man sich selbst nicht ganz bescheiden und doch sehr zutreffend nennt. Mitte der Neunziger Jahre, als es die Halbschwedin und gebürtige Monegassin Jennifer Cardini in die Ferne und hinter das Mischpult zog, traf sie die im Grunde einzig mögliche Entscheidung. „Im Süden hat kaum jemand nach mir gefragt. Einerseits stimmt es einfach, wenn man sagt, dass ‚der Prophet im eigenen Land nicht viel gilt‘. Andererseits musste ich nach Paris aufbrechen, um draufzukommen, was überhaupt in mir steckt. Außerdem ist das sehr französisch, dieser obligate Paris-Zwischenstopp in jeder Karriere.“ Zusätzliche Motivation ging von der Tatsache aus, dass es Jennifer Cardini als junge Lesbe in Monaco – einer Kleinstadt mit um die 30.000 Einwohnern, die eine 1,2 Quadratkilometer große Fläche besiedeln – beim besten Willen kein aufregendes Leben führte. „Als homosexuelle Jugendliche dort aufzuwachsen, war sicherlich noch schwieriger als anderswo. Monaco ist konservativ und katholisch und ein sehr erstickendes Umfeld. Es gab auch keine Lokalszene für Homosexuelle, geschweige denn für Lesben.“ Jennifer Cardinis Lehr- und Wanderjahre bis zu ihrem Aufbruch nach Paris beinhalteten illegale Freiluft-Raves im Süden Frankreichs, die DJ-Sets von – ja tatsächlich! – Laurent Garnier oder Jeff Mills, Begeisterung für Detroit-Techno und ihre eigene Experimentierfreude in Musikdingen. Dass sie es am Ende in Monaco oder auch Nizza, wo sie 1994 zum ersten Mal an Turntables stand, nicht mehr aushielt, hängt mit ihrer immensen Faszination für Musik ebenso zusammen wie mit der latent homophoben Atmosphäre, mit der sie sich auseinandersetzen musste. „Ich wollte mehr von der Musik, die ich mochte. Damals konnte man noch nicht einfach so in einen großen Plattenladen gehen und eine fertige Mix-CD von Chloé oder Ivan Smagghe, die gemeinsam mit mir groß geworden sind, kaufen.“ Ein wenig beschämt weist Cardini darauf hin (auch wenn sie befürchtet, dass sie derlei Erinnerungen geradewegs zu Urgestein erstarren lassen), dass von CDs am Anfang ihrer Laufbahn ohnehin noch nicht die Rede war: Mixtapes waren angesagt – und um Musik zu hören, die sie abseits des Mainstream interessierte, war Eigeninitiative gefragt. „Die einzige Möglichkeit, in den frühen Neunziger Jahren Techno zu hören – in den großen Clubs gab es das damals noch nicht –, war es, sich Platten zu kaufen. So ist das eigentlich gekommen.“ Als sie dann Mitte der Neunziger Jahre in Paris ankam, ging alles ziemlich schnell. Aus ihrer Freundschaft mit Delphine Palatsi, die als über und über tätowierte Body Artist und DJ Sex Toy eine Szenegröße war, ergab sich ein gemeinsames Projekt. Palatsi war eine der schillerndsten Figuren der Pariser Lesbenszene und animierte als exzentrische Kunst-figur mit Glamrock-Allüren Technosoirées, die über die Grenzen ihrer homosexuellen Fangemeinde ausstrahlten. Als Jennifer Cardini mit Palatsi das Duo Pussy Killers gründete, wurde auch sie rasch bekannt in einer Stadt, die an allen Ecken und Enden in Bewegung gekommen war.
In der Tat schienen alle erdenklichen Bereiche von einer aufregenden Dynamik angesteckt: In die einerseits angestaubte, andererseits überschicke Modeszene kam Bewegung dank Impulsen, die zum Beispiel vom Ende der Neunziger Jahre gegründeten Kollektiv Surface 2 Air ausgingen. Auch der heute längst zum Mainstream gehörende und aus keinem Reiseführer wegzudenkende Concept Store Colette entstand 1997 in der Rue Saint-Honoré und erregte Aufsehen mit einem neuartigen und avantgardistischen Shop-Konzept. In der Kunst erlebte man ebenfalls eine Aufbruchsstimmung: Ende der Neunziger Jahre begannen rudelweise Galerien mit einem interessanten Künstlerportfolio aus dem Marais, ihrer bis dahin angestammten Heimat, ans südliche Seine-Ufer in die Rue Louise Weiss abzuwandern. Eine neue museale Institution öffnete wenig später ihre Pforten: Das unweit des Eiffelturms gelegene Palais de Tokyo wurde als „Ort für zeitgenössische Kunstproduktion“ konzipiert. Der graphische Auftritt dieses jungen und frech daherkommenden Museums wurde von der Graf kagentur M/M Paris gestaltet – die sich weltweit in den Jahren zuvor eine ausgezeichnete Reputation für ihre Bildsprache erworben und zum Beispiel für Björk und Madonna Albumcover gestaltet hatte. Selbst in der französischen Literatur ging es vergleichbar bunt zu: Neuzugänge der elitären und streng reglementierten intellektuellen Hochkultur wie Michel Houellebecq und Frédéric Beigbeder sorgten ab Mitte der Neunziger Jahre für frischen Wind, der über die Grenzen des Landes hinauswehte. Junge Autorinnen wie Virginie Despentes und das bisexuelle Ex-Model Ann Scott warfen sich voll Begeisterung in dieses Fahrwasser und taten sich mit den einzigen nennenswerten Beispielen französischer Popliteratur hervor. Und hier schließt sich wieder der Kreis mit der pulsierenden Clubszene an der Seine: Ann Scott war damals mit Delphine Palatsi/Sex Toy zusammen und schwärmte in einem Interview vom „Spaß, den Delphine und Jennifer hatten, wenn sie gemeinsam auftreten.“
Berührungspunke unter den Vertretern dieser neuen Avantgarde gab es also ausreichend – man kannte einander und kam schnell in Kontakt. Als Pussy Killers positionierten sich Cardini und Palatsi mit einem Mix aus Techno, Rock und New Wave zwischen den Polen der housigen Mainstram-Clubszene und dem auf einer Hardcore-Technoschiene fahrenden Club Rex. Dort wurde man auf Cardini aufmerksam und bot ihr eine Residency an, die sie bis heute innehat. Ebenfalls von Bedeutung ist ein kleiner Nischenclub, der 1997 als Treffpunkt einer partybegeisterten Lesbenszene eröffnet wurde: Das Pulp avancierte dank der für ein gemischtes Publikum geöffneten Donnerstagabende, die von Jennifer Cardini, Ivan Smagghe, Chloé und Sex Toy animiert wurden, schnell zum Tummelplatz der hippen Pariser Jugend beiderlei Geschlechts und jeder erdenklichen sexuellen Orientierung. „Das Pulp war deshalb so interessant, weil es etwas Neues anbot. Die Richtung, für die Chloé, Ivan oder ich heute noch stehen, das alles entstand damals im Pulp. Wir suchten unsere Einflüsse in allen möglichen Richtungen, mischten Techno mit der Musik, die wir als Jugendliche gehört hatten. Rock, New Wave, Punk – die Stimmung war dunkel, Spannung lag in der Luft, wir wollten mehr Tiefgang und damit eine Alternative zur Pariser House-Szene.“
In den Folgejahren entwickelte sich Jennifer Cardini weiter, und zwar in eine Richtung, die sie ein wenig aus der Stadt an der Seine wegführte. Die Dinge veränderten sich ohnehin, bisweilen in tragischer Weise – Delphine Palatsi starb 2002 sehr jung und völlig überraschend. 2004 kam das Aus für das Pulp, da die Besitzer der Immobilie die Räumung anordneten. „Das Pulp ist von der Bildfläche verschwunden – einige von denen, die damit assoziiert waren, haben mit anderen Projekten weitergemacht. Das Label Kill the DJ zum Beispiel wurde von einer der Organisatorinnen gegründet – dort habe ich auch Platten herausgebracht, nebenher aber auch mein eigenes Ding gemacht.“ Nach dem Erfolg von Compilations wie „Flash“ (UCMG, 2002) oder „Lust“ (UWE, 2005) traf es sich gut, dass Jennifer Cardini eine Zusammenarbeit mit dem Kölner Label Kompakt beginnen konnte. „Kompakt ist für mich zu einer Familie geworden, und ich lebe auch die meiste Zeit in Köln. In meiner Arbeit hatte ich mich lange als Einzelkämpferin gesehen und wollte nicht nur von einem Label vertreten werden. Aber Köln tut mir gut.“ Der Pariser Alltag sei ihr am Ende auf die Nerven gegangen – irgendwann stellt sich wohl unweigerlich die Ruhe nach dem Sturm, beziehungsweise der Wunsch danach, ein. „Ich bin Französin und werde immer an Paris hängen. Aber am Ende waren mir die Menschen zu aggressiv, die Stadt zu stressig, die Mieten zu hoch.“ Die Achse Paris – Berlin, meint sie, sei zwar grundsätzlich faszinierend, aus Gründen ihrer „Persönlichkeitskonfiguration“ aber langfristig keine Option – „zu exzessiv“ sei sie, als dass sie dem ununterbrochenen Partyangebot in Berlin widerstehen könne. „Aus einer Perspektive, wo ich produktiv sein möchte und an meinem neuen Album arbeite, ist Köln für mich die richtige Entscheidung. Hier lebe ich in einer Beziehung, fühle mich aufgehoben – und das ist sehr wichtig für mich, ich bin nicht so hart, wie viele meinen.“ Seit der Veröffentlichung ihres letzten, bei Kompakt erschienenen Albums „Feeling Strange“ sind zwei Jahre vergangen – am nächsten arbeitet sie gerade. „Wer weiß, vielleicht zieht es mich auch irgendwann wieder nach Paris zurück. Aber fürs Erste fühlt es sich für meinen Wunsch, Musik zu machen, besser an, wenn ich der Stadt eine Zeit lang fernbleibe.“