Startseite » On the Edge

On the Edge

Text: Pamela Jahn | Fotos: Press
Kristen Stewart als Jean Seberg in SEBERG, 2019 © Prokino

Sie hat das gewisse Etwas. Mehr als nur Ausstrahlung, Charme oder Talent. Kristen Stewart hat Charakter. Das merkt man nicht nur ihren Filmfiguren an, die mit jeder neuen Rolle bissiger, kantiger, mutiger werden. Das spürt man vor allem, wenn man die Ausnahmeschauspielerin im Gespräch unter vier Augen oder bei öffentlichen Auftritten erlebt. Alles andere als schüchtern, hat die 1990 in Los Angeles geborene Tochter eines Produzenten und einer Drehbuchberaterin schon früh gelernt, sich im Medienrummel zu präsentieren. Zwangsweise. Denn wer wie Stewart in David Finchers Panic Room (2002) mit kaum zwölf Jahren bereits Jodie Foster an die Wand gespielt hat und seither pausenlos im Geschäft ist, der muss sich ein dickes Fell zulegen. Ihr auf dem roten Teppich ein Lächeln abzuringen, ist allein deshalb ein Ding der Unmöglichkeit. Nur wenn sie redet, dann redet sie frei, hat keine Angst, ihre Meinung zu sagen oder anzuecken. Sie steht zu ihren Überzeugungen wie zu ihren Rollen, die heute nicht mehr viel von der Bella Swan der Twilight-Jahre erkennen lassen, mit der sie vor zehn Jahren für eine ganze Generation von Teenagern unsterblich wurde.

Dass sie nun in Benedict Andrews Seberg die nicht weniger eigenwillige Schauspielerin verkörpert, die 1959 in Jean-Luc Godards Außer Atem die Nouvelle Vague einläutete, als sie mit Jean-Paul Belmondo über die Champs-Elysées spazierte und versuchte, die „New York Herald Tribune!“ an die Pariser zu bringen, macht nicht nur Sinn, sondern erscheint bei genauerer Betrachtung geradezu zwingend. Denn vieles vereint die beiden Darstellerinnen, im Herzen wie in ihren Ambitionen. Ähnlich wie Seberg musste sich auch Stewart im Zuge ihres Twilight-Starruhms immer wieder gegenüber der Presse behaupten, wurde zum Ziel der Tabloids, die sich erwartungsgemäß mehr für ihr Privatleben als für ihr Talent interessierten. Als der Druck zu groß wurde, tauchte sie ab, drehte zwei Jahre gar keinen Film, um – und darin besteht der große Unterschied zu Seberg – wieder zu sich selbst zu finden und gestärkt zurückzukehren, als Soldatin in Peter Sattlers Camp X-Ray.

Tatsächlich zeigt auch Andrews’ Film eine Seberg jenseits der Champs-Elysées, der Nouvelle Vague und ihrem Leben in Frankreich. Stattdessen richtet er den Blick auf die zweite Hälfte ihres viel zu kurzen Lebens mit all seinen Verwicklungen und dem tragischen Ende, das bis heute nicht völlig geklärt ist. Zu dem Zeitpunkt, an dem die semi-biografische Geschichte einsetzt, ist Seberg längst ein Star, wenn auch ein gebrochener – ihr Körper verbrannt, seit Otto Preminger sie in Die Heilige Johanna (1957) auf dem Scheiterhaufen tatsächlich in Flammen aufgehen ließ. Damals war sie gerademal achtzehn Jahre alt und ihr Vertrag mit dem großen Regisseur ein so verbindlicher wie unheilvoller. Doch Seberg, eine Kämpfernatur, boxte sich frei und wurde mit Godards Hilfe über Nacht zum Liebling des neuen französischen Kinos. Als sie sich Ende der sechziger Jahre eine Auszeit von ihrem Leben in Paris gönnt, um in Hollywood ein paar Filme zu drehen, lernt sie auf dem Weg dorthin den Aktivisten und engen Vertrauten von Malcolm X, Hakim Jamal (Anthony Mackie), kennen. Sich mehr als einer einfachen Affäre hingebend, unterstützt Seberg bald auch Jamals politische Initiativen inhaltlich und finanziell. Sie engagiert sich für die „Black Panther“-Bewegung, wird bald zur Hauptunterstützerin der radikalen Bürgerrechtler, wie sie sich schon in ihrer Jugend für den Kampf gegen Rassenhass und für eine bessere Welt eingesetzt hat. Dadurch gerät sie jedoch ins Kreuzfeuer der Kritik, wird vom FBI bespitzelt und verfolgt, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Bürgerrechtsbewegung und sämtliche seiner Anhänger systematisch zu zerstören, mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf Ver-luste. Seberg zeigt den Preis, den diejenigen zahlen mussten, die damals bewusst oder unbewusst zwischen die Fronten gerieten, und wie aus dem unguten Gefühl, verfolgt zu werden, ein fataler Verfolgungswahn entstehen kann.

Stewart spielt diese Seberg mit einer Leidenschaft und Schärfe, die ihr eigenes unbiegsames Engagement gegen die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft nach außen kehrt. Und noch etwas macht die beiden Schauspielrinnen zu Komplizinnen: So wie Seberg sich nicht hinter ihrer Rolle als Kultfigur der sechziger Jahre zu verstecken gedachte und immer wieder nach neuen Herausforderungen und komplexeren Rollen suchte, begibt sich auch Stewart in ihrem Beruf gerne auf unsicheres Terrain, wagt sich nach vorn und ist bereit, sich auf Ungewisses einzulassen, um ihr Spiel und ihren Hori-zont zu erweitern. Ihre Arbeitswut führt immer wieder dazu, dass sie nicht selten in mehreren Filmen pro Jahr auftaucht wie beispielsweise 2016, als sie zugleich in Kelly Reichardts episodischem Frauendrama Certain Women, Woody Allens romantischer Komödie Café Society, Ang Lees Kriegssatire Billy Lynn’s Long Halftime Walk und Olivier Assayas’ rätselhaftem Trauer-, Geld- und Geister-Drama Personal Shopper spielte. Vor allem letzterer wusste Stewarts endloses, rohes Potential auszuschöpfen, nachdem er sie bereits zwei Jahre zuvor an der Seite von Juliette Binoche für sein Meta-Drama Clouds of Sils Maria gecastet hatte. Stewart selbst hatte zunächst keine Ahnung, dass sie sich für ihre zweite Zusammenarbeit mit dem französischen Auteur indirekt einem Horrordrama verpflichtet hatte. Aber auch das gehört zu ihrer unerschrockenen Natur: „Die Erfahrung hat mir die nötigen Gegensätze geboten, die es mir erlaubten, mich härter fallen zu lassen als jemals zuvor. Und nur darauf kommt es an. Das ist immer mein Ziel.“

Hart gefallen ist auch Seberg mehr als einmal in ihrer Karriere, wenn auch im umgekehrten Sinn und nicht zu ihren Gunsten. Aber Stewart fängt sie auf, spielt sie mit Gefühl, Respekt und Verstand, bis Seberg selbst die Nerven verliert. Am nähesten kommen sich die beiden Frauen in dem Moment, in dem auch Seberg am Ende noch einmal ganz bei sich ist, als sie eine Pressekonferenz gibt, um die Medien anzuklagen, als Handlanger des Systems im Allgemeinen und des amerikanischen Geheimdienstes im Speziellen. Zu dem Zeitpunkt hatte Seberg bereits alles verloren, ihr Kind, ihre Karriere und auch den Willen, weiterzuleben. Nur ihre Würde nicht. Sie übernimmt Verantwortung für ihre eigenen Taten, aber sie klagt auch an, richtet sich noch einmal auf gegen diejenigen, die sie terrorisiert und in die Verzweiflung getrieben haben. 

Für Stewart, der vor ihrem Coming-out lange geraten wurde, ihre Sexualität in der Öffentlichkeit zu verbergen, sind Figuren wie Jean Seberg ein Geschenk. Aber umgekehrt ist auch Kristen Stewart ein Glückfall für diesen Film. Seit sie sich und ihrem Privatleben etwas Luft gemacht hat, gibt sie sich auch auf der Leinwand sichtlich befreiter, dreht neben Hollywood-Blockbustern wie Charlie’s Angels (Regie: Eliza-beth Banks) immer wieder und immer öfter auch ungewöhnliche Arthouse- und Independent-Filme. Diese Freiheit steht ihr gut. Auch die Unberechenbarkeit. An ihre Grenzen gehen, auch dorthin, wo es wehtut, das kann sie so gut wie kaum eine andere Schauspielerin ihrer Generation. In Jean Seberg hat sie nicht nur in dieser Hinsicht eine Seelenverwandte gefunden. 

In Venedig sprach der ehemalige Twilight-Star über ihre Rolle in Benedict Andrews’ Film, die reale Person Jean Seberg, die Handhabung ihrer eigenen politischen Agenda, aber auch über ihren neuen Status als etablierte Actrice des Weltkinos. 

Kristen, wie viel wussten Sie über Jean Seberg, bevor Sie ihre Rolle übernahmen? Entdeckten Sie eine Verbundenheit zu ihr? Schließlich sind Sie beide in ziemlich jungen Jahren berühmt geworden.

Kirsten Steward: Ich kannte Jean Seberg eigentlich nur als Bild: Diese Frau, die sich mit ihrem Daumen über die Lippen streicht und sagt „Qu’est-ce que c’est, dégueulasse…?“, oder so ähnlich. (Der Satz stammt aus der berühmten Schlussszene von Jean-Luc Godards À bout de souffle, der Seberg an der Seite von Jean-Paul Belmondo zu einer Ikone der Nouvelle Vague machte, Anm.) Wissen Sie, der Schauspielberuf beinhaltet immer einen gewissen Aspekt der Inszenierung, der Selbstdarstellung. Du willst dir die Fähigkeit, mit Leuten Verbindungen, Beziehungen zu formen, erhalten, also musst du manchmal Spielchen spielen, um dir sozusagen deine Plattform zu bewahren. Dabei kann man aber ehrlich bleiben, und das tat sie mit Inbrunst. Das Coole an ihrer Story ist, dass ich zunächst gar nicht bemerkt hatte, dass es genau dieses Verlangen in ihren Augen, dieses ekstatische, überschwängliche Bedürfnis, sich gut mit anderen Leuten zu verstehen, war, aufgrund dessen sie Hollywood den Rücken kehrte. Dies ist durch viele Dinge untermauert, an die ich auch glaube. Sie war eine sehr empathische Menschenfreundin und Humanistin, in einer Zeit, in der die Leute das nicht wirklich wollten. Das hat sie richtig erschüttert. Ihre Plattform, ihre Szene wandte sich gegen sie. Ich kannte sie also aus Breathless (À bout de souffle, Anm.), als dieses Bild, das ich dann versuchte, zu dekonstruieren, um die Frau dahinter und ihre Beweggründe zu entdecken. Das ist gerade jetzt so eine coole Geschichte. Ich weiß, dass alle sagen „Warum ist das denn jetzt gerade wichtig?“ Naja, weil es einfach wichtig ist: Für andere Menschen etwas zu opfern, das man wirklich liebt, ist eine bewundernswerte, tolle und mutige Sache und die Lebensgeschichte dieser Person ist aus ihrerseits den richtigen Gründen leider so tragisch verlaufen … Wir sollten sie wirklich für mehr als nur ihren Kurzhaarschnitt und ja, auch als nur für ihre Filme kennen.

Lesen Sie das vollständige Interview mit Kristen Stewart in der Printausgabe 


SEBERG / JEAN SEBERG – AGAINST ALL ENEMIES

Drama/Thriller, USA 2019 – Regie Benedict Andrews

Drehbuch Joe Shrapnel, Anna Waterhouse Kamera Rachel Morrison

Schnitt Pamela Martin Musik Jed Kurzel Production Design Jahmin Assa

Kostüm Michael Wilkinson

Mit Kristen Stewart, Jack O’Connell, Anthony Mackie, Margaret Qualley,

Colm Meaney, Zazie Beetz, Vince Vaughn

Kinostart 18.09.2020, 102 Minuten

| FAQ 54 | | Text: Pamela Jahn | Fotos: Press
Share