Zwei Jahre nach dem Wegweiser Sense and Sensibility ist es soweit: Tränenreich sinkt 1997 die Titanic auf unzähligen Kinoleinwänden dieser Erde in den dunklen Atlantik, von den Massen gleich beweint wie umjubelt steigt „Rose“ Kate Winslet endgültig den Film-Olymp empor. Auch wenn sich die eigene Schauspiel-Persona nie vollständig von einem derartigen Welterfolg abzukoppeln vermag, stellt Winslet schon wiederum zwei Jahre nach dem (bis Avatar) am Box Office finanziell erfolgreichsten Film überhaupt in Holy Smoke! unter Beweis, dass sie auch komplexeren und kontroverseren Charakteren markerschütterndes Leben einzuhauchen weiß. Gleichzeitig markiert die weibliche Hauptrolle in Jane Campions Tour de Force über eine junge Frau, die einem indischen New-Age-Kult mit Sektenstruktur anheim fällt und dem machoiden Spezialisten, der sie davon „heilen“ soll, auch die bis dorthin wahrscheinlich deutlichste Erfahrung mit der großen Schattenseite der Glitzerwelt: Zwar habe Produzent Harvey Weinstein sich an ihr verhältnismäßig nichts so Grobes geleistet wie an viel zu vielen Kolleginnen, als unglaublich unangenehm beschreibt sie die Arbeit mit ihm dennoch; in einem kürzlich im „Guardian“ erschienenen Interview, in dem sie ebenso ihre Engagements bei Woody Allen (Wonder Wheel, 2017) und Roman Polanski (Carnage, 2011) explizit bedauert. Auf Technologie, die bestimmte Erinnerungen aus dem menschlichen Gehirn löscht, würden sich die drei genanntenjahrzehntelangen Big Player vielleicht auch gerne stützen – die in New York City ansässige Firma Lacuna, die solche Services anbietet, existiert jedoch bisher nur in Eternal Sun-shine of a Spotless Mind (2004), wohl einem der verschrobensten Mainstream-Hits des Jahrtausends, im dem eine munter Perücken-Farbe wechselnde Kate Winslet in der Gedankenwelt ihres Antagonisten Jim Carrey herumwirbelt, dass es einen schwindelt. Vier Jahre nach der kultigen Exzentrik, sowie unter anderem und knapp aufeinanderfolgend einem Mega-Flop und einer versöhnlichen Rom-Com (All the King’s Men bzw. The Holiday, beide 2006): der Oscar. Die Hauptrolle in Stephen Daldrys ansonsten nicht übermäßig gefeierter Bernhard-Schlink-Verfilmung The Reader (2008) beschert Winslet bei ihrer vierten Nominierung erstmals einen Academy Award. Nachdem in den ansonsten eher schwankenden Zehnerjahren in Punkto Kinofilm vielleicht ihre Rolle als Apple-Größe Joanna Hoffman im Biopic Steve Jobs (2015) am bemerkenswertesten ist, zeigt Winslet unter der Regie von Todd Haynes in der Mini-Serie Mildred Pierce (2011) auf brillante Weise, dass sie auch dazu befähigt ist, die Fernsehgeräte zu erobern. Wie passend, dass zehn Jahre nach diesem Emmy-belohnten TV-Erfolg wieder eine große HBO-Serienproduktion in den Startlöchern steht: In Mare of Easttown begibt sich die Britin Winslet in den Osten der Vereinigten Staaten, wo sie ab 18. April als Kleinstadt-Detective Mare Sheehan gleichzeitig einen Mord aufklären und ihr eigenes Leben bewältigen muss.
Man ist beinahe überrascht, dass es ein Smartphone ist, das Mare aus dem Schlaf ruft – dermaßen aus der Zeit gefallen wirkt die Atmosphäre der Kleinstadt. Entpuppt sich die Ursache dieses ersten Notrufs als allem Anschein nach nicht wahnsinnig gefährlich, stellen die Macher Brad Ingelsby und Craig Zobel rasch die Weichen auf Schwerverbrechen und Familiendrama. Easttown wird knapp ein Jahr nach dem bis dahin ungeklärten Verschwinden einer jungen Frau von einem Mord an einer weiteren erschüttert. Die Erzählung setzt dabei nicht etwa beim Fund der Leiche an: Dem gnadenlosen Anblick der Getöteten geht ein turbulentes Tagesgeschehen voraus, das erahnen lässt, in welch komplexen Sozialgefügen sowohl das Opfer als auch Winslets Figur eingebettet sind. Familien- und Bekanntschaftsverhältnisse gleichen einem Fulltime-Job. Derart sind sie ruhiger Polizeiarbeit natürlich eher nicht förderlich, sondern kommen den Bemühungen Mares, die von ihrem Vorgesetzten auf öffentlichen Druck der Mutter hin angewiesen wird, auch den Fall der Verschwundenen neu aufzurollen, schon bald hautnah und unvermittelt in die Quere. Mit dem erwähnten gewaltvollen Tod einer 17-jährigen Mutter wird Mare ein Ermittler von Außen zur Seite gestellt, was endgültig die Twin Peaks-Antennen ausschlagen lässt: tote junge Frau, bald klar: kein Einzelfall; dann ebenfalls im Spiel: Sex-Arbeit und Sex-Verbrechen.
All das in einer Kleinstadt, in der alle alle anderen zu kennen scheinen. Anders als bei Lynch läuft der Charakter des Sonderermittlers hier der lokalen Kriminalbeamtin selbstverständlich nicht den Rang ab: Mare of Easttown hält das Namensversprechen und lässt Kate Winslet neben dem Job auf Leben und Tod genug Raum, um glaubhaft eine Frau zu verkörpern, die zwar vom Leben überdurchschnittlich gebeutelt wird, der damit einhergehenden Bitterkeit jedoch nicht die Oberhand lässt. Schrullig sind die Menschen in Easttown zwar bisweilen ebenso, gerade bei der Zeichnung der weiblichen Figuren ist man jedoch um Realismus und Nachvollziehbarkeit anstelle von Schrillheit und Verklärung bemüht. Die so entstehende Stilistik lässt sich drehen und wenden: Dramatischer Krimi ebenso wie kriminalistisches Drama, changiert die Stimmung nicht nur flott und reibungslos zwischen der nüchternen Darstellung von Polizeiarbeit und privaten Herausforderungen, sondern schafft es auch mühelos, herauszustellen, dass diese beiden Bereiche oftmals tief ineinander greifen. Das Gelingen dieses Spagats – einer eben, bei dem Hände und Füße einander halten – macht Mare of Easttown zu einem Erlebnis, das sich trotz klassischer inszenatorischer Mittel nie lediglich am Crime-Genre abarbeitet und ein bisschen Sentimentalität und Menschlichkeit einstreut, sondern seine Spannungsbögen, falsche Fährten und genaue Figuren-Miniaturen ein äußerst funktionales Drama erschaffen lässt.
Im Interview mit Lucy Allen spricht Kate Winslet über die Besonderheiten dieser Rolle sowie ihre Fähigkeit der Dialekt-Aneignung und gewährt profunde Einblicke in ihren Arbeitsprozess.
Lucy Allen: Kate, könnten Sie uns zu Beginn erzählen, was Sie an diesem Projekt interessiert hat und warum Sie mitgemacht haben?
Kate Winslet: Wie lange haben Sie Zeit? (Lacht.) Also, mir wurden zunächst die ersten beiden Episoden zugeschickt. Das liegt wirklich lange zurück. Es war Ende 2018. Ich hatte damals viel um die Ohren. Ich war dabei, etwas zu drehen, den Film Ammonite, der jetzt gerade rauskam. Den Durchblick darüber zu behalten, wie ich den Sprung von der Figur dort hin zu Mare Sheehan schaffen würde, war, glaube ich, eine der größten Herausforderungen, vor der ich je stand. Mare ist auch überhaupt nicht wie ich. Das ist ziemlich beängstigend – für Schauspielerinnen wie mich aber auf eine großartige Weise, ich mag es ja, erschreckt zu werden und etwas ausgesetzt zu sein. (Lacht.) Ich habe so etwas einfach noch nie gemacht, ich war aufgeregt, etwas zu lesen, dass mich sofort gepackt hat. Ich habe nicht nur gleich ein Gefühl dafür gehabt, wer sie war, sondern auch von der Welt, in der sie lebte, ein Gefühl dafür, wo sie herkommt. Dieser Gemeinschaftssinn, diese tiefe Verwurzelung in einer Gesellschaft, die dich mitunter vergessen lässt, wer du selbst bist, und die Verantwortungen und Bürden, die Mare mit sich trägt – aus vielen Gründen, die mit ihrer Vorgeschichte zu tun haben –, waren für mich wirklich faszinierend. Die Story hat so viel Herz und basiert auf so viel Wahrheit, sie stieß bei mir wirklich auf Resonanz. Ich war auch darüber erfreut, wieder mit HBO zu arbeiten, nachdem ich 2010 Mildred Pierce mit ihnen gemacht hatte …
Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 60
MARE OF EASTTOWN
Drama, USA 2021 (Limited-Serie) – Idee Brad Ingelsby Regie Craig Zobel
Mit Kate Winslet, Evan Peters, Julianne Nicholson, Guy Pearce, Jean Smart, Angourie Rice, u.a.
Ab 21. Mai wahlweise auf Deutsch oder im Original immer freitags um 20.15 Uhr in Doppelfolgen auf Sky Atlantic sowie auf Sky Ticket und über Sky Q auf Abruf