Das Leben Kann so schön sein: Freunde und Partys, Zigarren und Whisky, tiefblauer Himmel und strahlender Sonnenschein. Eigentlich könnte es dem Ingenieur und ehemaligen Kongressabgeordneten Rubens Paiva (Selton Mello) mit seiner Frau Eunice (Fernanda Torres) und den gemeinsamen fünf Kindern zu Beginn der 1970er-Jahre in ihrem Haus am Strand kaum besser gehen. Aber im Hintergrund verdunkelt sich die politische Lage im Land. Über ihren Köpfen dröhnen Hubschrauber, Polizisten schikanieren Zivilisten bei willkürlichen Straßenkontrollen und die Zeitungen berichten von Entführungen ausländischer Diplomaten. Trotzdem! All das kann man ausblenden, wenn man sich umgeben von viel Liebe und Kunst im liberalen, intellektuellen Umfeld der Paivas bewegt.
Eines Morgens dann der Schock: Männer mit Waffen und ausdrucks-losen Mienen stehen vor der Tür, um den Familienvater zum Verhör mitzunehmen. Zeit für Erklärungen und Verabschiedungen bleibt keine, pünktlich zum Soufflé sei er wieder zuhause, versichert Rubens seiner besorgten Ehefrau. Doch bald werden auch Eunice und ihre 15-jährige Tochter Eliana (Luiza Kosovski) zeitweise verhaftet. Und in dem Moment kippt das harmonische Familienporträt von Walter Salles, wird I’m Still Here (Oscar für Bester Internationaler Film) zu einer Kampfansage gegen jede Form von Unterdrückung und Diktatur.
Zwölf Tage lang muss Eunice in einer schmutzigen Zelle ausharren, immer wieder wird sie verhört. Nach ihrer Freilassung beginnt sie selbst unangenehme Fragen zu stellen. Sie sucht ihren Mann, will die Wahrheit wissen oder zumindest Hinweise darüber erhalten, was mit ihm geschehen ist. Doch erst Jahrzehnte später werden ihre Befürchtungen bestätigt, dass Rubens von der brasilianischen Militärregierung ermordet wurde. 1996 erhält Eunice seine offizielle Sterbeurkunde. Die Leiche ist bis heute nicht aufgetaucht.
In der nahtlosen Verschmelzung von Realität und Fiktion liegt eine der großen Stärken von Salles’ Film. I’m Still Here (deutscher Titel: Für immer hier) basiert auf den gleichnamigen Memoiren von Marcelo Paiva, der elf Jahre alt war, als sein Vater gewaltsam verschwand. Das 2015 erschienene Buch wurde ein nationaler Bestseller, nicht zuletzt, weil darin die dunkle und – zumindest bis dahin – weitgehend verschwiegene Vergangenheit Brasiliens zur Sprache kam. In seinem ersten Spielfilm seit über zehn Jahren greift Salles diesen Aspekt auf, indem er Eunice, die im wirklichen Leben Menschenrechtsanwältin wurde, in den Mittelpunkt seines leise rebellierenden Dramas stellt. Fernanda Torres spielt sie mit großer Würde, Eleganz und Ausdauer als unfreiwillige, aber deshalb vielleicht umso überzeugendere Aktivistin in einer Zeit markanter traumatischer Umwälzungen.
I’M STILL HERE / AINDA ESTOU AQUI
Drama/Politthriller, Brasilien/Frankreich 2024
Regie: Walter Salles; Drehbuch: Murilo Hauser, Heitor Lorega; Kamera: Adrian Teijido; Schnitt: Affonso Gonçalves; Musik: Warren Ellis
Mit: Fernanda Torres, Selton Mello, Valentina Herszage, Luiza Kosovski,
Barbara Luz, Guilherme Silveira, Cora Mora, Pri Helena
Verleih: Polyfilm, 138 Minuten
Kinostart: 14. März