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Rüber in die DDR

Text: Ruth Schink | Fotos: Illustration: Franz Suess

Die Flucht in den Osten war kein Massenphänomen. Und doch auch kein Einzelschicksal, wie die Statistik zeigt. In jedem Fall aber ein deutsch-deutsches Tabu-Thema. Insgesamt wanderten zwischen der offiziellen Staatsgründung der DDR 1949 und dem Mauerfall 1989 rund 600.000 Menschen von West nach Ost. Viele ließen Arbeitslosigkeit, Schulden, Militärdienst oder unglückliche Ehen hinter sich. Manche flüchteten in die Arme geliebter Menschen oder in den Traum vom Sozialismus. Aber wo kamen sie alle an?

Willkommen im Nirwana

Nirwana ist kein Himmel. Es ist keine greifbare Seligkeit und kein Neubeginn in einer anderen Sphäre. So erklären die Buddhisten „das Auslöschen aller mit der Vorstellung vom Dasein verbundenen Faktoren“. Eine Art Nirwana erwartete folgerichtig die meisten Einreisewilligen in die DDR. Es war ein Willkommen in der sozialistischen Realität der Aufnahmelager – der ersten Anlaufstelle für viele Neubürger.

Zah Röntgental, Schönlinder Straße, Ortsteil Zepernick

Eingezäunt und abgeschottet. Bewacht von Stacheldraht, Kameras und Hunden. Das Prozedere, stets das gleiche. Erste Befragung, Überprüfung der Papiere, Leibesvisitation, Quarantäne. Medizinische Eingangsuntersuchung, erkennungsdienstliche Aufnahme – Daumenabdruck, Lichtbildausweis – die Fotos sprechen Bände.Tägliche Gespräche mit der Kripo oder Stasi. Seitenlange Berichte. Immer und immer wieder. Bis zur Erschöpfung. Fluchtgrund? Vorstrafen? Unheilbare Krankheiten? Mit wem ausgereist? Warum? Kontakt zu BRD-Stellen? Die Suche nach potenziellen Staatsfeinden lässt keine Schlampereien zu.„Das Vorzimmer der neuen Welt“, wie es in den Parteizeitungen heißt, ist auch Gefängnis. Ausweise werden abgenommen. Anrufe überwacht. Kontakt nach außen ist verboten. Volleyball und Kegeln sollen die Zeit vertreiben, Grillabende mit DIA-Vorträgen auf die neue Heimat einschwören. Das Personal bleibt anonym – zu groß das Sicherheitsrisiko, wenn sich ein Insasse als Spitzel erweist. Namen gibt es nicht. „Registriernummer 56, umgehend in die sechste Etage kommen“.

Fünf größere Aufnahmelager mit bis zu 700 Plätzen gab es Mitte der Sechziger in der DDR. Nach dem Mauerbau wurden einige geschlossen. Nur das ZAH, das Zentrale Aufnahmeheim Röntgental bleib. Ein prophetischer Name. Hier wurde man auf seine Republiktauglichkeit durchleuchtet. Die Wochen und Monate in Isolation wurden zur Belastungsprobe. Viele litten unter Lagerkoller, manche nahmen sich das Leben.

Wer endlich in der neuen „Freiheit“ angekommen war, stand noch rund ein Jahr unter Beobachtung der Behörden. Abweichendes Verhalten wurde schnell registriert. West-Ost-Migraten durften aus Sicherheitsgründen in bestimmten Bereichen nicht arbeiten. Selbst Westdeutsche, die seit längerem integriert waren, konnten Positionen und Ämter in der öffentlichen Verwaltung oder der SED nicht erreichen.

Die DDR-Führung stand Zuwanderern aus Prinzip argwöhnisch gegenüber. Viele Einreisewillige wurden abgewiesen. Mit dem Juni-Aufstand 1953 und der folgenden Fluchtwelle in die BRD änderte sich die Situation. Immigranten waren plötzlich willkommen, erhielten finanzielle Unterstützung, günstige Kredite, Wohnung und Arbeit. Vor allem Republikflüchtigen versprach die „Politik des Neuen Kurses“ eine Rückgabe ihres Eigentums sowie völlige Straffreiheit. Eine Kampagne, die Wirkung zeigte. Die meisten BRD-Flüchtlinge waren tatsächlich junge Heimkehrer, die sich im Westen isoliert fühlten und keine passende Arbeit gefunden hatten. Sie hofften auf ein gesichertes Leben in ihrer alten Heimat. Bis 1957 stieg die Zahl der Übersiedler von durchschnittlich 30.000 auf über 70.000 jährlich. 

1960 wendete sich das Blatt abermals. Die Berlin-Krise verunsicherte viele potenzielle Rückkehrer. Auch der wachsende Bedarf an Arbeitskräften im Westen und das steigende Sicherheitsbedürfnis im Osten trugen das ihrige zu einer rückläufigen Einwanderung bei. Nach dem Mauerbau sanken die Zahlen weiter. Rund 2.000 Menschen entschieden sich in diesem Jahr noch für ein Leben im sozialistischen Realismus.

Propaganda auf beiden Seiten

Die Behörden der DDR führten penible Wander-Statistiken. Sie unterschieden zwischen „Erstzugängen“, also EX-BRD-Bürgern und „Rückkehrern“, den ehemaligen „Republikflüchtigen“. Andere Nationen wurden in diesem System erst gar nicht erfasst. Meist handelte es sich um Arbeiter aus sozialistischen Bruderstaaten wie Vietnam, Polen oder Mosambik. Mehrfachzählungen, weil unterschiedliche Dienststellen ein- und dieselbe Person extra registrierten waren üblich, Korrekturen aufgrund von Abschiebung oder Rückzug nicht. Generell trug der Kalte Krieg auf beiden Seiten zu geschönten Statistiken im Sinne des jeweils gewünschten Stimmungsbildes bei. Im Systemkonflikt dienten die Zuzügler der politischen Legitimierung. Mit dem „Recht auf Arbeit“, der hohen weiblichen Erwerbsquote, der umfassenden Kinderbetreuung und der Wohnungsgarantie versuchte sich der Osten als das „bessere Deutschland“ zu vermarkten. Die Art der Werbung trieb freilich manchmal sonderbare Blüten. Wie etwa die so genannte Menthol-Zigaretten-Affaire. Am 19. September 1989 titelte das „Neue Deutschland“: „Ich habe erlebt, wie BRD-Bürger gemacht werden!“ Der Ostberliner Hartmut Ferworn („Mitglied der SED, glücklich verheiratet, drei Kinder“) schilderte in dem Artikel, wie er während eines Spazierganges in Budapest von einem Deutschen mit Hilfe einer Menthol-Zigarette betäubt und nach Wien entführt worden sei. Sein Kidnapper habe dafür in der Botschaft der BRD einen „Packen D-Mark-Scheine“ erhalten. Vor Ort fanden sich angeblich viele weitere „Verleitete“. Der gewissenlose Menschenhandel stellte sich später als Falschmeldung heraus, mit der man die vorherrschende Massenflucht Richtung Westen in ein anderes Licht rücken wollte.

Auch auf BRD-Seite wurden Zahlen geschönt und Informationen vertuscht. So wusste die Bildzeitung anno ’74 zu berichten: „Flüchtling um Mitternacht an der Mauer erschossen“. West-Politik, -Öffentlichkeit und -Medien waren entsetzt von der menschenunwürdigen Vorgehensweise der sozialistischen Grenztruppen und moralisierten heftig. Tatsächlich war der Mauerspringer allerdings gar kein DDR-Flüchtling, sondern ein junger Gefreiter der „Kings Own Scottish Borderers“. Sturzbetrunken war er wenige Minuten nach Mitternacht vom Westen aus über die Mauer geklettert, um zu sehen, was auf der anderen Seite los ist. Während der 23-Jährige offiziell totgesagt wurde, lag er bereits bequem und sicher in einem Krankenhausbett im Westen der Stadt – lediglich mit einem vom Warnschuss verletzten Oberschenkel.

Manche der Zuwanderungskampagnen zeigten tatsächlich den gewünschten Effekt. Viele bewirkten gar nichts. Einerseits, weil sie an den realen Bedingungen der Dikta¬tur scheiterten. Andererseits, weil oft die Falschen kamen.

Wer ist ein unsicheres Element?

Das „Rübermachen“ hatte von jeher einen schalen Beigeschmack. Der Verdacht Krimineller, Asozialer, Spitzel oder gar Spion zu sein haftete jedem an, der ins Land kam. Nicht ganz zu unrecht. Ein Blick in die Kriminalitätsstatistik offenbart: Insgesamt waren etwa 38 Prozent der deutsch-deutschen Zuwanderer bereits in der Bundesrepublik straffällig geworden. Rund 10.000 DDR-Bürger sollen weiters zwischen 1949 und 1989 für den Bundesnachrichtendienst (BND) sowie dessen Vorläuferorganisation gearbeitet haben. Nicht alle Kontaktpersonen spionierten allerdings aus Überzeugung für den Klassenfeind – neben Geld sei ebenso Erpressung im Spiel gewesen. Natürlich gab es auch professionelle Westspione, die verdeckt im Osten lebten. Das beweisen unter anderem jene 140 US-Agenten, die Pfingsten 1956 von Volkspolizisten festgenommen wurden. Die Enttarnung dieses MID-Netzwerkes (Military Intelligence Divison) ist Hans Wax zu verdanken – ebenfalls ein freiwillig zugereister Wessie, der 1961 in den Osten kam, um dort zum berüchtigten Stasi-Spitzel und Menschenräuber Nummer Eins zu werden.

Zentralflughafen Berlin-Schönefeld, 18 km südlich der Hauptstadt

53 Ziele auf vier Kontinenten werden von hier aus bedient. Seit Jahresbeginn ohne besondere Vorkommnisse. Doch an diesem Tag im Frühsommer gibt es Probleme bei der Abfertigung. Zollbeamte entdecken eine Schusswaffe und schlagen Alarm. Die junge Frau, welche die Pistole mit sich führt, bleibt gelassen. Sie verlangt entschieden nach einem hochrangigen Gesprächspartner. Innerhalb weniger Minuten ist der Leiter der Terrorabwehr vor Ort und eskortiert die Dame samt retournierter Waffe aus dem Terminal. Die energische 34-Jährige ist Inge Viett (spätere Eva Maria Sommer, spätere Eva Schnell), Führungsfigur der westdeutschen Linksterroristen. Der unterkühlte Stasi-Oberst ist Harry Dahl, Hauptabteilung XXII des MfS. Die gesamte Szenerie ist lediglich der erste Akt in einem großen Aussteiger-Dramolett.

Inge Viett befand sich nach der Befreiung eines Mitglieds der „Bewegung 2. Juni“ aus der Justizvollzugsanstalt Moabit im Mai 1978 auf einer Transitreise durch DDR-Gebiet. Hier knüpfte sie Kontakt zu Harry Dahl und handelte aus, dass der Flüchtige mit anderen Gesinnungsgenossen Ost-Berlin als Rückzugsraum benutzen durfte. Viele kampfesmüde RAF-Terroristen der zweiten Generation wollten nicht länger im Untergrund leben und schmiedeten Fluchtpläne nach Angola oder Mosambik. Nun bot die Staatssicherheit die DDR als alternatives Asylland. Ab 1980 tauchten insgesamt zehn ehemalige Mitglieder der Roten Armee Fraktion im Mielke-Staat unter: Susanne Albrecht, Monika Helbing, Silke Maier-Witt, Christine Dümlein, Ralf Baptist Friedrich, Werner Lotze, Ekkehard von Seckendorff, Siegried Sternebeck und später auch Inge Viett und Henning Beer. Unter dem Deckmantel der „Resozialisierung“ erhielten die Aussteiger neue Identitäten, Wohnung und Arbeit. Als Gegenleistung wurden Informationen über die linksterroristische Szene Westdeutschlands verlangt. Während international gefahndet wurde, führten die Flüchtigen als Lehrer, Chemielaboranten oder Repro-Fotografen unerkannt ein zweites Leben. Erst 1990 wurden sie von der Kriminalpolizei enttarnt und festgenommen.

Der Promi- Faktor

Auf die Nähe krimineller Elemente hatte sich der Arbeiter- und Bauernstaat schon einmal eingelassen. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war die SED bereit Zweckbündnisse mit der alten NS-Intelligenz einzugehen, um Aufbau und Fortschritt des neuen Staates voranzutreiben. Im Oktober 1946 wurden tausende Techniker und Ingenieure aus der Besatzungszone zwangsweise in die Sowjetunion verschickt, um in der Flugzeug- und Raketenindustrie zu arbeiten. Zu diesen Spezialisten zählte auch Werner Hartmann, der seine Begabung bereits in der NS-Rüstungsforschung bewiesen hatte. Nach seiner Rückkehr siedelte er nicht nach Westberlin, sondern in die DDR. Als einer der ersten Neubürger der noch jungen Republik hatte der Physiker eine leitende Funktion in der Atomwirtschaft inne und war finanziell privilegiert. Hartmann war einer von vielen Wissenschaftern, die von braun auf rot gefärbt wurden. In späteren Jahren setzte die Führung bevorzugt auf eigenen Nachwuchs und führte den Kampf gegen den Faschismus härter. Hartmann fiel dieser Weisung 1974 zum Opfer. Er wurde von der Stasi von einem Tag auf den anderen verhaftet, seiner Funktionen entbunden und verhört. Seine Karriere war damit zu Ende.

Auch für andere Prominente war die Übersiedlung ein gesellschaftlicher Abstieg. Etwa für den ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Günther Gereke, der in seiner neuen Heimat zum Präsidenten der „Zentralstelle für Zucht- und Leistungsprüfung der Vollblut- und Traberpferde“ degradiert wurde. Ein herber Schlag für den früheren Gutsbesitzer, der 1950 aus der CDU flog und die DDR als seine politische Zukunft ansah.

Ideologisch motiviert waren auch viele Künstler und Intellektuelle, wie Berthold Brecht, der damit in den Nachkriegsjahren ein Bekenntnis gegen den Faschismus abgab. In den Siebzigerjahren löste der Vietnam-Krieg eine weitere sozialistische Sympathiewelle aus. Prominente Immigranten wurden zu der Zeit meist ohne große bürokratische Mühen eingebürgert. Sie genossen Reisefreiheit und Privilegien. Viele gerieten aber trotz ihrer Überzeugung in Konflikt mit Partei und Staat. Argwohn gegenüber Westdeutschen und Bespitzelung waren an der Tagesordnung. Allzu kritische Auseinandersetzung mit dem System führte früher oder später zu Arbeitsverboten. Ein Schicksal, dass ein ganz besonderer Künstler trotzdem nicht scheute. Er war der letzte wahre Kommunist.

Soltau, nahe der Deutsch-Deutschen Grenze

Eigentlich sollte Rolo jetzt in seiner Klasse sitzen. Doch rund um ihn ist es nur dunkel. Ellen hat sich den ersten Schultag ihres Sohnes anders vorgestellt. Feierlich, mit Fähnchen und Liedern, Kaffee und Kuchen. Mit Begrüßung durch die Rektorin und einer kleinen Aufführung der älteren Mitschüler. Aber sicher nicht im Kofferraum eines sowjetischen Diplomatenwagens. Der Liebe wegen wird die überzeugte Genossin heute zur Schmugglerin. Sie folgt Lorenz, Rolos Vater, über die Grenze in den Westen. 

Diese Familienzusammenführung scheiterte 1966. Der Vater, der vor der Steuerfahndung geflohen war, hatte längst eine neue Frau und neue Kinder. Die Mutter fühlte sich fremd im Westen, las DDR-Bücher und sah DDR-Fernsehen. Ihr Herz war immer noch in Magdeburg zuhause. Mit dieser Sehnsucht wuchs auch ihr Sohn, Ronald M. Schernikau auf. Früh trat er in die DKP und später in die SEW, die Sozialistische Einheitspartei Westberlins, ein. In den Achtzigern studierte er für einige Zeit an der Freien Universität und am Leipziger Literaturinstitut. Im Westen war der gefeierte Schriftsteller schillernde Diva der Berliner Schwulenszene. Doch der beherzte Kommunist wollte nur eins: zurück in den Ersten Sozialistischen Staat auf deutschem Boden. Im September 1989 schließlich, als tausende Ostdeutsche flohen, lies er sich einbürgern. Er war der letzte Westdeutsche, der in die DDR übersiedelte. So wie sein Sehnsuchtsland fand auch Schernikaus junges Leben wenig später ein jähes Ende.

FAKTISCHE QUELLEN:

• Cornelia Röhlke: Entscheidung für den Osten – Die West-Ost-Migration, Katalog zur Ausstellung der Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marien- felde, 2009

• Bernd Stöver: Zuflucht DDR, Spione und andere Übersiedler, Verlag C.H. Beck, 2009

• Ulrich Stoll: Einmal Freiheit und zurück. Die Geschichte der DDR Rückkehrer. Christoph Links Verlag, 2009

• Hannes Sieberer: Als Agent hinterm Eisernen Vorhang: Fünf West-Spione über ihre DDR-Erfah- rungen, Edition Ost, 2008

• Martin Schaadt: Dann geh doch rüber. Über die Mauer in den Osten, Christoph Links Verlag, 2009

• Matthias Frings: Der letzte Kommunist – Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau, Aufbau Verlag, 2009 

| FAQ 05 | | Text: Ruth Schink | Fotos: Illustration: Franz Suess
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