Es kommt wohl eher selten einmal vor, dass ein Filmemacher mit zwei Filmen auf zwei A-Festivals hintereinander in einer Saison vertreten ist. Bei dem Japaner Ryûsuke Hamaguchi war das 2021 der Fall. Bei der Berlinale hatte im März, noch bei geschlossenen Kinos, Wheel of Fortune und Fantasy Premiere, ein dreiteiliger Episodenfilm, und in Cannes folgte im Juni schon Drive my Car, die dreistündige Bearbeitung einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Hamaguchi beschäftigt sein Publikum also dieser Tage mit gut 300 Minuten Film, und dies durchaus im Wortsinn: Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, seinen Arbeiten zu folgen. Wobei diese auch gern den Anschein erwecken, es wäre alles ganz selbstverständlich und beiläufig, einfach ein Bild an das andere gereiht, wie in der Suggestion einer natürlichen Abfolge von Tagen und Ereignissen. In dieser natürlichen Abfolge aber spielen Zufall und Laune eine wichtige Rolle. Das macht auch vor allem Wheel of Fortune and Fantasy deutlich, der auf die Kreisbewegung verweist, mit der manche Philosophien das Problem der Ungleichheit zu lösen versuchen – oder ein wenig trivialer auf Glücksräder oder Slot-Maschinen. In einer langen Perspektive lösen sich vielleicht die Unterschiede auf, die zwischen den Menschen bestehen, und die zugleich das Leben so spannend machen, wie sie manchmal zum Verzweifeln sind.
Bevor man aber einen latenten Buddhismus auf einen Regisseur projiziert, der in westlichen wie in südostasiatischen Kontexten gleichermaßen zu Hause ist, findet man in Drive My Car eine fast klassisch lineare Geschichte, die auf eine Durcharbeitung von traumatischen Erfahrungen hinausläuft. Haruki Murakami ist ja bekannt für seine Odd couples, hier gibt es ein besonders markantes: der Theatermacher Yusuke Kafuku und die Chauffeurin Misaki Watari. Sie sind im Verlauf des Films sehr oft in einem roten Saab 900 unterwegs, einem Liebhaberauto, das beinahe so etwas wie das Medium des Films ist. Yusuke ist nach Hiroshima gekommen, um hier einen „Onkel Wanja“ von Tschechow zu inszenieren. Das Markenzeichen seiner Arbeit ist, dass er den Text auf Sprecherposition in unterschiedlichen Sprachen verteilt. Er besetzt sogar eine Frau, die sich in koreanischer Zeichensprache verständigt. Auf dem Weg von und zur Arbeit spielt er immer eine Kassette, auf der der Text von Onkel Wanja zu hören ist, abzüglich der Rolle, die er selbst spielen soll. Bis auf die Sekunde genau sind diese Auslassungen auf seinen Duktus und seinen Atem eingestellt. Zudem ist diese Kassette eine Hinterlassenschaft seiner Frau, die zwei Jahre zuvor überraschend gestorben ist. In Hiroshima ist es die Regel, dass der Regisseur einen Fahrer zugeteilt bekommt, in diesem Fall eine junge Frau. Yusuke sträubt sich anfangs, stellt aber dann bald fest, dass Misaki (anders als eine verstorbene Frau Oto) eine exzellente Lenkerin ist. Und der Saab 900 wird, neben dem Proberaum, der wichtigste Handlungsort in Drive My Car.
Es macht viel von der eigentümlichen Sogwirkung von Hamaguchis Arbeiten aus, dass Dialoge in einfacher Schuss-Gegenschuss-Auflösung bei ihm nie an Spannung verlieren. In Drive My Car geht der Sinn dabei die ganze Zeit durch verschiedene Bedeutungsebenen: Das Stück von Tschechow sucht man unwillkürlich nach einem Schlüssel zu den Erlebnissen ab, dazu kommt bald Misakis Erzählung von ihrer Mutter, die auf dem Weg von und zur Arbeit immer schlafen musste, wodurch erst die Tochter zu der großartigen Fahre-rin wurde, die Yusuke zu schätzen weiß. Drive My Car ist zugleich analytisches Drama (legt also frühere, bedeutsame Ereignisse frei) und dramatisches Drama, fügt also weitere wichtige Ereignisse hinzu. Hiroshima ist per se natürlich ein Schauplatz, an dem das Entscheidende immer schon geschehen ist. Hamaguchi fügt diese Facetten des überindividuellen Gedenkens beinahe diskret in den Film ein, die Gedenkstätte für die Opfer der Atombombe erweist sich als ein Stück Landschaftsarchitektur. Das Fahren auf kurvigen Küstenstraßen und ausladenden Stadtautobahnen, häufig aus großer Distanz gefilmt, hat als Bild eine vergleichbare Funktion wie das Sprachbild vom Rad in Wheel of Fortune and Mystery ...
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DRIVE MY CAR / DORAIBU MAI KÂ
Japan 2021 – Regie: Ryûsuke Hamaguchi
Drehbuch: Ryûsuke Hamaguchi, Oe Takamasa, nach der Kurzgeschichte
von Murakami Haruki, Kamera: Shinomiya Hidetoshi
Musik: Ishibashi Eiko, Produktion: Akihisa Yamamoto
Mit: Hidetoshi Nishijima, Toko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima, Park Yurim
Verleih: Polyfilm 179 Minuten
Kinostart: 23. Dezember 2021
WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY / GÛZEN TO SÔZÔ
Japan 2021 – Regie und Drehbuch: Ryûsuke Hamaguchi
Kamera: Yukiko Iioka, Musik: Naoki Jono, Produktion: Satoshi Takada
Mit: Kotone Furukawa, Kiyohiko Shibukawa, Katsuki Mori, Fusako Urabe, Aoba Kawai
Verleih: Stadtkino Filmverleih, 121 Minuten
Kinostart: 19. November 2021