Startseite » Sex, Love and Rock ’n’ Roll

Sex, Love and Rock ’n’ Roll

Sean Baker dreht Liebesfilme, die sich in den Randlagen der Gesellschaft abspielen. Das macht sie prekärer – und auf geheimnisvolle Weise leidenschaftlicher. Sein diesjähriger Cannes-Gewinner „Anora“ bricht einem das Herz.

Boy meets girl. Junge trifft Mädchen. Damit fängt es, ja, wie so oft an: Vanya (Mark Eydelshteyn) will Spaß haben. Ani (Mikey Madison) braucht Geld. Als sich die beiden in dem gehobenen New Yorker Sex-Club kennenlernen, wo die junge Frau aus Usbekistan arbeitet, ist sie die Einzige, die den russischen Oligarchen-Sohn versteht. Eigentlich heißt er Ivan. Anis richtiger Name ist Anora, aber das interessiert niemanden in ihrem Metier. Was zählt, ist, dass die Chemie zwischen ihr und dem lukrativen Kunden stimmt. Das tut sie, und wie. Von der Erotikbar nimmt Vanya die Stripperin direkt mit nach Hause in die moderne Großstadt-Villa, die natürlich seinen Eltern gehört. Ani weiß ihre Chance zu nutzen, dreht noch einmal auf, bis dem verzogenen Partyhengst Hören und Sehen vergeht. Schließlich ist sie ein Profi und verdammt gut in dem, was sie tut.

Gleiches gilt für Sean Baker. Der 1971 in New Jersey geborene Regisseur ist seit über 20 Jahren im Geschäft. Er ist der Inbegriff des amerikanischen Independent-Kinos. Nicht nur, was seine Filme angeht. Baker hat den Indie-Look für sich gepachtet. Zu jedem Anlass kommt er lässig mit zerzausten Haaren und Turnschuhen. Lächelt höflich, schaut verschmitzt. Man merkt ihm die Anstrengung nicht an, die es ihn streckenweise gekostet hat, einen Fuß in der Tür zu halten. Jetzt hat er mit seinem achten Spielfilm die Golde Palme in Cannes gewonnen. Für ihn, wie er sagt, ein persönliches Karriere-Highlight: „Das ist buchstäblich mein einziges Ziel als Filmemacher in den letzten 30 Jahren gewesen“, verriet er bei der Preisverleihung im Mai. „Ich bin mir also nicht sicher, was ich mit dem Rest meines Lebens anfangen werde.“ Fest steht: Mit seinen Geschichten, die stets einen Blick auf die Vereinig-ten Staaten abseits des amerikanischen Traums treffen, gibt es für ihn noch Stoff genug.

Baker hat sich auf dem klassischen Weg nach oben gearbeitet, an dem, seiner Meinung nach, immer weniger junge Filmemacher interessiert sind. „Es geht darum, bei den wichtigen Festivals dabei zu sein und im Weltkino anerkannt zu werden“, das wusste er schon sehr früh. Mittlerweile zweifelt in der Branche wohl niemand mehr an seinem Talent. Trotzdem ist sein Name in der breiten Öffentlichkeit immer noch relativ unbekannt. Baker ist beharrlich, aber ein Star ist er nicht.

Das dürfte sich spätestens jetzt ändern: Anora ist ein Hit. Unverschämt unterhaltsam, sexy – und so menschlich, dass es weh tut. Baker hat eine überdrehte Pretty Woman-Fantasie im Stil einer Screwball-Komödie gezaubert, die von einer chaotischen Energie zu ihrem dramatischen Kern getrieben wird. Denn weil auch Ani im Herzen eine Romantikern ist, lässt sie sich von Vanya gleich für die ganze Woche buchen. Auf einem spontanen Trip nach Las Vegas wird geheiratet. Na klar! Nur missfällt die Schnapsidee den Eltern des Taugenichts so sehr, dass sie bald ihrer groben Handlanger auf das frisch vermählte Paar ansetzen. Sie sollen für Ordnung sorgen. Aber so leicht gibt Ani ihr gerade gewonnenes Glück nicht her, sondern wehrt sich bald mit Händen und Füßen, um für ihre Selbstachtung und die Ehe zu kämpfen, von der sie bis dahin noch immer halbwegs glaubte, dass sie auf echter Zuneigung beruht.

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 77

 

ANORA
Drama/Komödie USA 2024 — Regie: Sean Baker;
Drehbuch: Sean Baker; Kamera: Drew Daniels; Schnitt: Sean Baker; Production Design: Stephen Phelps; Musik: Matthew Hearon-Smith; Kostüm: Jocelyn Pierce;
Mit: Mikey Madison, Mark Eydelshteyn, Yura Borisov, Karren Karagulian, Vache Tovmasyan, Lindsey Normington, Emily Weider, Paul Weissman;
Verleih: Universal Pictures, 139 Minuten
Kinostart: 31. Oktober

 

| FAQ 77 | | Text: Pamela Jahn
Share