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SEXY BEAST

Früher litt Emma Stone an schweren Panikattacken, mit 15 ging sie nach Hollywood. Seitdem ist die amerikanische Schauspielerin nicht mehr zu stoppen. In „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos spielt sie eine Kindsfrau wider Willen, die mit Neugier und Charme die Welt und ihre Männer erobert.

Foto © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

Eine Frau steht am Abgrund. Die Nacht ist schwarz, die Brücke ist hoch. Ein letztes Mal zögert sie, doch ihre Verzweiflung ist groß. Dann lässt sie sich fallen, in die Tiefe, in den Tod. Es ist nicht das Ende. Es ist ein Anfang. Denn nicht nur die junge Frau wird leben, sondern auch das Baby, das sie in ihrem Bauch trägt.
Bella Baxter (Emma Stone) wird als Experiment wiedergeboren: Der Wissenschaftler Godwin Baxter (Willem Dafoe) macht aus ihrem Körper ein Forschungsobjekt. Er pflanzt ihr das Gehirn ihres Kindes in den schönen, unversehrten Kopf. Es klingt einfach und leicht, wenn der verschrobene Arzt die Prozedur erklärt – und Bella, in ihrer völlig angstfreien, unbeholfenen Art, ist der Beweis, dass es funktioniert.
Die Welt ist für Bella ein unendliches Abenteuer. Jeden Tag macht sie neue Entdeckungen, folgt ihrer unersättlichen Neugier, probiert sich aus. Dabei können schon mal ein paar Teller und Tassen zu Bruch gehen – oder mehr. Denn Bella neigt zu unkontrollierten Ausbrüchen. Auch ihre Gliedmaßen hat sie nur bedingt im Griff. So taumelt sie durch die viktorianische Villa ihres Schöpfers wie ein charmantes Monster, eine Chimäre, mit Rüschenbluse und der Unschuld einer Jungfrau im Blick.

Fotos © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

Aber auch das soll sich bald ändern. Bella macht Fortschritte, schnell und aktiv. Mit zunehmender Eloquenz entwickeln sich parallel ihr Bewusstsein und ihre Libido. In dem Moment stolpert der leicht beeindruckbare Student Max McCandles (Ramy Youssef) in ihr Leben. Er soll helfen, Bellas Verhalten zu dokumentieren, stattdessen verliebt er sich in sie. Eine Hochzeit steht in Aussicht, nur dazu kommt es nicht, weil der schmierige Anwalt Duncan Wedderburn (Mark Ruffalo) das Bündnis in letzter Sekunde zu verhindern weiß.
Er verspricht Bella, sie aus der Obhut von Baxter zu befreien und in fremde Länder zu entführen, von London aus geht es nach Lissabon über Alexandria bis nach Paris. Doch je unabhängiger und intelligenter die schöne Wilde auf ihrer ungewöhnlichen Reise in die Emanzipation wird, desto erbärmlicher werden die Männer in ihrem Umfeld – auch Wedderburn verliert erst seine Geduld, dann den Verstand. Und Bella beginnt früh zu ahnen, dass es sich in einer Realität, in der es, wie sie selbst sagt, „nur Gewalt und Zucker“ gibt, ohne den Ballast testosterongesteuerter Liebhaber entschieden leichter lebt.

„In ‚Poor Things‘ trifft ‚Barbie‘ auf den Mythos von Mary Shelleys ‚Frankenstein‘: Die Schöne und das Biest in einer Person“

Foto © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

In Poor Things trifft Barbie auf den Mythos von Mary Shelleys „Frankenstein“: Die Schöne und das Biest in einer Person. Bella nennt ihren Ziehvater immer wieder „Gott“, und das nicht von ungefähr. Mehr als alles andere geht es hier um die Politik der Kontrolle. Um Anarchie. Und die Macht, die es zu brechen gilt. Nicht zuletzt steckt darin auch ein sehr realistischer Verweis auf Shelleys eigenen Vater, William Godwin, und dessen radikale politisch-philosophische Ideen. Prägnante Referenzen wie diese sowie der Geist von Mary Wollstonecraft (Shelleys Mutter und selbst eine der ersten Frauenrechtlerinnen) ziehen sich wie ein roter Faden durch den gesamten Film.
Aber man muss diese Bella Baxter mit eigenen Augen sehen, um zu begreifen, was genau im neuen Film von Yorgos Lanthimos vor sich geht. Oder nein, anders: Man muss Emma Stone auf der Leinwand sehen, wie sie diese vermeintlich „arme“ Kreatur verkörpert, wie sie Worte und Gedanken, Arme und Beine immer wieder auf phänomenale Weise verrenkt und damit ihrer Figur eine eigenwillige Identität und eine radikale Kraft verleiht.
Oder noch ganz anders? Wo fängt man an, bei einer Schauspielerin, die als kleines Mädchen unter lähmenden Panikattacken litt und die heute, mit kaum Mitte dreißig, so ziemlich alles und jeden an die Wand spielen kann? Ein großer Teil von Stones Anziehungskraft liegt in ihrer komplizierten Schönheit: Die übergroßen Augen, der breite Mund, das schmale Kinn machen ihr Gesicht interessant, ihre Mimik intensiv. Dazu kommt die tiefe Stimme, in die sie gleichzeitig Komik und Pathos legen kann.

Foto © 2023 Searchlight Pictures All Rights Reserved.

Stone ist eine Spielwütige, tollkühn und unerschrocken, schlagfertig und klug. Den Wunsch, vor der Kamera zu stehen hatte sie früh, sehr früh, um so der Angst aus ihren Kindertagen zu entfliehen. Schon als Teenagerin überredete sie ihre Eltern, dass ein Umzug von Arizona nach L. A. für sie unbedingt notwendig und genau das Richtige sei. Aber nicht nur die Familie war skeptisch, auch Hollywood hat ihr enormes Potenzial nicht auf Anhieb erkannt. Stone spielte sich über den klassischen Weg nach oben. Ihr erstes Casting war für eine Sitcom, und mit Fernsehauftritten und kleinen Kino-Nebenrollen ging es zunächst mühsam weiter. Die ersten Jahre waren hart. Sie lebte mit ihrer Mutter in einem winzigen Apartment und jobbte nebenbei in einer Hunde-Bäckerei.
2010 gelang ihr der Durchbruch mit der Hauptrolle in der High School-Komödie Easy A. Sie wurde zum Publikumsliebling für die jüngere Generation. Comedy und Improvisation waren schon immer ihr Ding. Aber sie konzentrierte sich zunehmend auch auf respektablere Nebenrollen in Ensemble-Filmen wie The Help (2011) oder Gangster Squad (2013). Dann endlich: Nach einem Abstecher in Marvels „Spider-man“-Franchise wurde sie für ihren Auftritt in Alejandro González Iñárritus Showbiz-Satire Birdman (2014) erstmals für einen Oscar als Beste Nebendarstellerin nominiert.
Von da an gab es für Stone kein Halten mehr. Sie spielte am Broadway, wurde zeitweise Woody Allens Muse und Damien Chazelles Musical-Star in La La Land (2016), wofür sie schließlich den Oscar als Beste Schauspielerin erhielt. Aber es war Yorgos Lanthimos, der ihr Talent in neue Dimensionen überführen sollte. The Favourite (2018) war ein Film, der ästhetischer, abstruser und urkomischer kaum hätte sein können – nicht zuletzt auch wegen ihr. Mit unersättlichem Prunk, einer nie enden wollenden Heimtücke und einem Schauspieltrio, das Stone an der Seite von Olivia Colman und Rachel Weisz intrigieren sah, schaffte es Lanthimos dort, ein greifbares und realistisches Abbild des englischen Hofes im 18. Jahrhundert zu zeigen. Der Film war opulent, witzig und fies.

Yorgos Lanthimos and Emma Stone am Set von Poor Things. Photo by Atsushi Nishijima © 2023 Searchlight Pictures. All Rights Reserved.

Gleiches lässt sich auch über Poor Things sagen. Insofern könnte man meinen, Lanthimos, der Meister des Makabren, stagniert. Seit der 1973 in Athen geborene Regisseur mit der bissig-surrealen Gesellschaftssatire Dogtooth (2009) vor 15 Jahren das Arthouse-Kino regelrecht überfiel, hat er sich mit filmischen Merkwürdigkeiten wie Alps (2011) und The Lobster (2015) konsequent bis an die Spitze vorgearbeitet. Doch spätestens nach The Favourite fragte man sich zurecht: Was kann jetzt noch kommen? Sein Kino ist ein Kino der Verfremdung, das verstört und provoziert. Das geht meist nur so lange gut, bis Hollywood sich zu sehr einmischt. Oder noch schlimmer: Bis dem Künstler die Anstrengung zu groß wird, dagegen mit aller Gewalt anzugehen.
Mit Bella Baxter hat jedoch keiner gerechnet, am wenigsten Lanthimos selbst. Denn eigentlich wollte er den gleichnamigen Roman von Alasdair Gray bereits zu Beginn seiner Karriere verfilmen, nur fehlte ihm damals das nötige Geld. Vor allem aber mangelte es ihm an einer Schauspielerin von Stones Kaliber, die eine derart anspruchsvolle Rolle auf ihren schmalen Schultern tragen kann. Mühelos bringt sie den mal bitterschwarzen, mal unheimlichen Humor des Griechen in den herrlichsten Fratzen und Gesichtsentgleisungen zum Ausdruck. Ihre leicht ruckartigen Kopfbewegungen und ihr unbefangener Gang wirken stets unbeholfen und elegant zugleich. Die feministische Erweckungsgeschichte dieser unsäglichen Figur wäre ohne ihr phänomenal unverschämtes Spiel nicht halb so verblüffend und skurril.
Bellas Werdegang und das Scheitern der Männer um sie herum hat Lanthimos erneut in extravagante Bilder gepackt, die nur im Kino wirklich Eindruck machen. Die Kamera von Robbie Ryan, der bereits in The Favourite die Perspektiven verrückte, schaut diesmal noch öfter durch ein Fischaugenobjektiv auf diese seltsam verkehrte Welt, um das Gefühl der psychologischen Desorientierung und Dislokation zu verstärken. Derweil tummeln sich in Baxters Garten die verschiedensten Mischwesen: Der Kopf eines Schweins gackert auf dem Hinterteil eines Huhns, daneben reckt ein Hund selbstbewusst seinen langen Entenhals.
Aber all das ist für Lanthimos nichts Ungewöhnliches. Der Schock, die große Sensation fällt daher im Vergleich zu seinem früheren Werk relativ milde aus. Wenn es neben Stones sexy Biest noch etwas wirklich Unerwartetes in Poor Things gibt, dann ist es der Soundtrack des britischen Musikers Jerskin Fendrix. Nicht zuletzt, weil Lanthimos bisher weitest-gehend darauf verzichtet hat, seine absurden Geschichten und Bilderwelten musikalisch zu untermalen. Ihm fehlte auch in dieser Hinsicht ein Partner, der seinem Denken gleichgesinnt ist.


Die Zusammenarbeit mit Fendrix war in jeder Hinsicht ein Wagnis, auch weil der klassisch ausgebildete Pianist und Geiger mit seiner eigenwilligen Mischung aus Elektro-Punk und ultra-modernem Pop in der experimentellen Londoner Musikszene längst als einer der kompromisslosesten Profis gilt. Sein oft unvorhersehbarer und progressiver Sound, der in Poor Things die Handlung effektiv vorantreibt, bewegt sich so unerschrocken wie die Protagonistin durch die verschiedensten Klangwelten – es ist allein die herausfordernde Urkraft der schrägen Symphonien, die hier Bild und Ton miteinander verbindet und das Ganze am Ende irgendwie stimmig erscheinen lässt.
Poor Things hinterfragt Geschlechterdynamiken und Sexualität aus fast jedem noch so schiefen Blickwinkel. Bellas Suche nach Erleuchtung führt sie aus der schwarzweißen Monotonie ihrer Kinderstube über pompöse Luxus-Liner-Plüschsuiten bis in einen schwülen Pariser Puff. Aber da kann die schöne neue Welt, in die Baxter seine geliebte Kreatur entlässt, noch so bunt und überdreht daherkommen: Das eigentliche Feuerwerk findet im intellektuellen Raum zwischen hochbegabten Schauspielern auf dem Höhepunkt ihrer Kräfte statt. Es ist selten, dass ein Film, der in seinem Wesen so aufklärerisch daherkommt, dem Publikum derart viel Spaß bereitet.
Will man nach Mängeln suchen, hätte Lanthimos im Schnitt strenger sein können; Bellas langwieriger Abstecher nach Europa erscheint unnötig gestreckt. Vor allem hier hätte der Regisseur seiner virtuosen Schauspielerin sogar noch mehr zumuten können. Im Vergleich zum fulminanten Auftakt macht er es seiner monströsen Heldin streckenweise zu leicht.
Erst wenn Bella als gestandene Frau nach Hause zurückkehrt, findet sie in einem längst überfälligen Akt der Vergeltung die wahre Erlösung. Dann ist sie frei, dann ist sie ganz bei sich – und unter ihresgleichen. Männer sind Schweine, das weiß sie jetzt – und kreuzt sie mit Ziegen, so wie sie es von „Gott“ gelernt hat. Nur zum Spaß, nur zum Spiel.

 

Für ihre Rolle als Bella Baxter wurde Emma Stone – nach „La La Land“, 2017 – zum zweiten Mal mit dem Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet.

POOR THINGS
Fantasy/Komödie, USA/Großbritannien/Irland 2023
Regie Yorgos Lanthimos Drehbuch Tony McNamara
Kamera Robbie Ryan Schnitt Yorgos Mavropsaridis Musik Jerskin Fendrix Production Design Shona Heath, James Price
Mit Emma Stone, Mark Ruffalo, Willem Dafoe, Ramy Youssef, Christopher Abbott, Jerrod Carmichael, Hanna Schygulla
Verleih The Walt Disney Company, 141 Minuten
Kinostart 18. Jänner 2024

 

 

| FAQ 73 | | Text: Pamela Jahn
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