Ihre relativ späte Ankunft in der Popszene war von warmen Winden begünstigt. Anna Calvi schaffte es zwar nicht in die Top Five der BBC-List 2011, die zukunftsnostalgisch von den kommenden Stars schwärmt, dafür hat sie die Herzen von ein paar älteren Herren gewonnen, die auf die eine oder andere Weise Wellen in der Pophistorie geschlagen haben. „Sie ist die hippste Frau seit Patti Smith“, schwärmte Brian Eno. Der ehemalige Coral-Gitarrist Bill Rider-Jones verschaffte ihr einen Plattenvertrag mit dem renommierten Label Domino und Grantler Nick Cave kürte sie zum Vorprogramm seiner letzten Grinderman-Tour. Wen wundert’s? Die charismatische, heute 33-jährige gibt in ihrer Kunst kein harmloses Liebchen, sondern eine Frau von vollendet stoischem Bühnengebaren, das rasch in wütende Emphase wechseln kann. Sie mag zuweilen Stöckelschuhe auf der Bühne tragen, aber ihr rüdes Gitarrenspiel ist ein echter Schocker. Calvi greift Einflüsse von Claude Debussy, Django Reinhardt und Jimi Hendrix auf und wendet sie lustvoll in apokalyptische Kakophonie. Diese bleiche Fee ist trotz inniger Beschwörung der Liebe alles andere als lieblich. Anna Calvi macht Lust auf Abgründe, unbezähmbaren Gusto auf Angstlust. Sie verkneift sich trügerische Tröstungen, gibt stattdessen Perspektive: „In dieser Welt gibt es eine Menge Dunkelheit. Alles, worauf man vertrauen und woran man glauben kann, ist die Liebe.“
Ihr schlicht Anna Calvi betitelter, erster Songzyklus begann mit einem Instrumental. Calvi will ihre Geschichten von Einsamkeit und Liebespassion nicht bloß mit poetischen Lyrics erzählen. Sie setzt vor allem auf ungewöhnliche Musik. Gemeinsam mit der Multiinstrumentalistin Mally Harpaz und dem Schlagzeuger Daniel Maiden-Wood kreierte sie dichte Texturen voll düsterer, kitschfreier Romantik. Calvis roher, aber trotzdem sehnsuchtsvoller Anschlag lässt ihre Gitarre klingen, als würde sie sich für den Soundtrack einer Mystery-Serien in der Art von David Lynchs Twin Peaks bewerben. Gesanglich beherrscht die italienischstämmige Britin erotisches Hauchen genauso gut wie gutturale Ausbrüche. Einiger ihrer stimmlichen Hervorbringungen können es punkto burschikoser Hässlichkeit durchaus auch mit der frühen PJ Harvey aufnehmen. Dann aber wieder, in Liedern wie „I’ll Be Your Man“, produziert Calvi zartes Pathos à la Scott Walker. Der Song propagiert das Aufschieben der sexuellen Erfüllung: „I could be your lover in the night, these words are true, then we wait, wait forever.“ In guter abendländischer Tradition erkennt Calvi den Wert der Sublimierung.
„Musik selbst ist sehr sexuell“, meint sie. Und: „Wenn man jemanden so sehr liebt, dass man meint, ihn töten zu können – dieses Gefühl habe ich kennengelernt.“
Leider nicht aufs Album gefunden hat Calvis erste Single „Jezebel“, ein Lied mit dem 1951 Frankie Laine und Edith Piaf größten Erfolg hatten. Auch hier nimmt die Liebe zerstörerische Ausmaße an. Furchtlos intoniert Calvi diesen alten Millionenseller aus der Perspektive eines Mannes: „If ever the devil was born, without a pair of horns, it was you, Jezebel, it was you.“ Aus erwarteter Seligkeit erwächst hier nur Schmerz und Grauen: „If ever a pair of eyes promised paradise, deceiving me, grieving me, leavin me blue, Jezebel, it was you.“ Calvis verführerisches, düsteres Pathos quittierte ein Seher ihres YouTube-Live-Videos mit einem begeisterten „Nancy Sinatra found a new body!“ Diesem Verdikt steht das cinematografisch anmutende „Love Won’t Be Leaving“, ein Highlight von Calvis außergewöhnlichem Albums keinesfalls entgegen. Perkussives Rasseln und irrlichternde Twanggitarrenklänge begleiten Calvi auf eine Höllenfahrt in einen amourösen Fiebertraum, gegen den es kein Mittel zu geben scheint. Calvi über ihr Debüt: „Es ist eine Platte über all die Mächte, die von uns Besitz ergreifen, und wie man sie überlebt und einen Weg durch sie hindurch findet.“ Mögen bei dieser oft morbiden Musik auch die Panikspinnen den Rücken des Hörers mehrmals auf- und abkriechen, am Ende löst sich alles aschige Gefühl zugunsten einer Morgenröte auf, die Erlösung im Diesseits verspricht. Mit Anna Calvi hat eine neue Erlöserinnenfigur die Bühne des zuletzt gar schrecklich hedonistischen Pop betreten. Ihre Strenge hat sofort wahre Freiheit versprochen.
Zwei Jahre später: Der Nachfolger One Breath steht zu Aufnahmen in Frankreich und im fernen Dallas/Texas an. Man könnte glauben, ihr hoher Anspruch hätte Calvi in psychische Nöte versetzt, nach dem rauschenden Erfolg ihres Debüts. Das Gegenteil war der Fall. „Im Grunde war ich bei meinem ersten Album viel aufgeregter. Mich beschäftigten jetzt eigentlich rein musikalische Fragen. Von der Wirkung meiner Lieder war ich tief überzeugt.“ Ihr gutes musikalisches Umfeld vom ersten Album behielt sie bei. Die vielseitige, an zahlreichen Instrumenten agierende Mally Harpaz und den konsequenten Rhythmiker Daniel Maiden-Wood. Dazu kamen John Baggot, der Synthesizer, Orgeln und Pianos streichelte, sowie als ganz wichtige neue Kraft Fiona Brice, die für die schwelgerischen Streicherarrangements verantwortlich zeichnet. Musikalisch stand Calvi vor den gleichen Herausforderungen wie auf ihrem so erfolgreichen Erstlingswerk. Es galt, die Symbiose von Harmonie und Atonalität zu bewerkstelligen. Dieser für den normalen Hörer so ungewöhnliche Zustand ist für Calvi Ausgangspunkt für aufregende Studien. Bei der Titelnummer „One Breath“ geht es um jenen heiklen Moment, der den Beginn jeder Veränderung darstellt. „Es ist der Augenblick, in dem du Deckung runternimmst. Wenn du bereit bist, dich zu öffnen, dann kommst du aufregendes Terrain. Weil, was jetzt kommt, ist von der Aura der Erstmaligkeit lackiert.“ So natürlich wie sich kalte und warme Meeresströmungen mischen, so fließen bei Calvi dissonante und melodiensatte Elemente ineinander. Immer noch oszilliert ihre Stimme zwischen Flüstern und fiebrigen Schreien. Alles ist ihr Drama, egal ob Uptempo oder Downtempo: Überall herrscht eine Aura der Verstörung. Calvis Themen sind immer noch die Ambivalenz von Freude und Schmerz, Erdenschwere und celestialen Sehnsüchten.
Dabei hat sie sich in den letzten Jahren eine gewisse Weltläufigkeit antrainieren müssen. Eine andere mächtige Subkultur hat sich für sie interessiert, die Welt der Mode. Bereits 2010 trat Calvi beim Showcase des Labels Colette auf. Ein Jahr später benötigte man Calvis Dienst beim leicht dekadenten Dinner des Labels Gucci. Frida Gianni wählte persönlich Kleidung für Calvi aus, die sie dann bei ihrer kommenden Tournee trug. Der von der Queen geadelte Designer Paul Smith lichtete sie genauso ab wie Musikaficionado und Fashionikone Karl Lagerfeld. Letzterer wollte Calvi unbedingt für sein Lookbook fotografieren, das seine Herbst/Winterkollektion 2011 zeigte. Die Begegnung mit dem noch viel exzentrischeren Alphatierchen fand die schmerzlich introvertierte Singer/Songwriterin sogar einigermaßen amüsant. „Karl pflegt mit Sonnenbrille zu fotografieren. Es machte lustige Geräusche, als seine Kamera permanent auf seine Brille tätschte.“
Als Kind und Jugendliche träumte sie von permanenter Verwandlung, wie sie David Bowie in seinen „personae“ so sinnlich verkörperte. Jetzt am Zenith ihre Wirkung angelangt, zeigt Calvi erstaunliche Konstanz. Statt mal dies und mal jenes zu verkörpern, ist ihre Lust darauf gerichtet, noch die krudesten Widersprüche in ihren Act zu integrieren. Das hat wohl mit ihrer Kindheit und Jugend zu tun. Ihre Eltern Claudio und Veronica waren vom Temperatment her krass unterschiedlich und doch so harmonisch. Der aus Italien stammende Vater stand für großes Drama und wilde Emotionen, die britische Mutter für kühle Reserviertheit. Anna Calvi hat beides in sich. Das Extrovertierte spart sie sich für ihre Kunst auf, das Introvertierte beherrscht das Privatleben und (leider auch) ihre Begegnungen mit der Presse. Da kann es passieren, dass sich diese Frau, die auf der Bühne so mächtig auftrumpft, im Gespräch mit Fremden mit piepsiger Kinderunschuldsstimme vor eventuellem Ungemach schützt. Egal, wichtig ist, dass diese Künstlerin es schafft, immer noch mit ihrem „Inner Child“ in Verbindung zu sein. Hilfreich dabei ist ihr die reiche Praxis als Objekt für Hypnose. Ihre Eltern sind beide Psychotherapeuten, die auf diese Technik setzen und ihre beiden Kinder regelmäßig hypnotisierten. Das ist für die erwachsene Anna Calvi nun die einzige Möglichkeit völlig loszulassen. Drogen nimmt sie nicht, weil sie Angst vor Verlust der Kontrolle hat. „Mit der Hypnose haben mir meine Eltern eine gesunde Möglichkeit gezeigt, in eine Traumwelt zu kommen.“ Diese Möglichkeit nützt sie längst nicht mehr. Anna Calvi hat sich mit ihrer Kunst eine Parallelwelt konstruiert, die viele Menschen mindestens so attraktiv finden wie deren Schöpferin selbst. Was ist ihr im Moment am wichtigsten? Anna Calvi legt die Stirn in Falten und sagt dann mit klarer Stimme: „Mich interessiert der Moment Hoffnung, der sich immer aufs Neue bildet. Zukunft ist einfach nicht vorbestimmt, man kann sie gestalten.“
Anna Calvi
05. März 2014, Chaya Fuera, 1070 Wien