Mit Fotografinnen und Fotografen, die sich auf Prominente spezialisieren, ist das so eine Sache: Sind die Stars und Sternchen erst einmal vergessen, verlieren auch die Fotos schnell an Relevanz. Qualität und die Imagination sind es, die Paparazzi von richtigen Fotografen unterscheiden. Und Qualität und Imagination sind es auch, die die Arbeiten von Annie Leibovitz, Jahrgang 1949, zu etwas Besonderem machen – längst ist ihr Name auch Menschen ein Begriff, die sich eigentlich nicht sonderlich für Fotografie interessieren.
Viel Zeit hat die Frau in Sachen Karriere jedenfalls nicht verschwendet: Erste Fotos entstanden bereits in Teenagerjahren, und mit 18 begann Leibovitz – der Vater war Offizier, die Mutter Tänzerin – ein Studium am San Francisco Art Institute. Doch statt wie ursprünglich geplant Kunstlehrerin zu werden, arbeitete Leibovitz, zu deren frühen Vorbildern Robert Frank und Henri Cartier-Bresson zählten, bereits mit Anfang 20 am Puls der Zeit: Dem „Rolling Stone“ gefiel ihre Fotomappe derart gut, dass es zu einer langjährigen, produktiven Zusammenarbeit kam. Zunächst hatten ihre Arbeiten noch eher Reportagecharakter, die mit einer besonderen Nähe zu den Porträtierten bestachen; Leibovitz verbrachte nämlich immer gleich mehrere Tage mit den Objekten ihrer fotografischen Begiere, um sich in deren Alltag zu integrieren. Legendär aus diesen Tagen etwa ihre Aufnahmen des Schriftstellers und Gonzo-Journalisten Hunter S. Thompson. Zu viele Rockstars im Alltag – 1975 begleite Leibovitz beispielsweise eine Tour der Rolling Stones – führten allerdings schnell zu einer Drogensucht, der sich die Fotografin erst Anfang der achtziger Jahre wieder entledigen konnte.
Über die Jahre änderte sie (die 1981 zu den Gründungsmitgliedern von „Vanity Fair“ zählte) auch bewusst ihren Stil: Ab den achtziger Jahren entwarf sie vor jedem Shoot ein Konzept, das auf einer starken Bildidee basierte und das sie mit den zu Portätierenden besprach. Über die Jahrzehnte drängten sich die Prominenten (großteils aus dem US-amerikanischen Kulturleben) geradezu vor ihre Linse: Schauspieler, Musiker, Sportikonen, aber auch Politiker. Um noch einmal auf das Rockstarleben zurückzukommen: Einer Versteigerung ihrer künstlerischen Sammlung konnte Leibovitz, die von 1988 bis zu deren Tod 2004 mit Publizistin Susan Sontag liiert war, nur knapp entgehen. Die Firma Art Capital Group, die ihr einen Kredit über 24 Millionen eingeräumt hatte, verklagte die hoch Verschuldete im Jahr 2009 wegen Vertragsbruchs; in letzter Sekunde konnte aber doch noch ein Schuldenmoratorium ausverhandelt werden.
Der Verlag Taschen hat bereits 2014 einen Querschnitt durch Leibovitz’ Werk in einem seiner SUMOs veröffentlicht: 26 Kilogramm wog das Buch damals, und sauteuer war es obendrein. Nun erscheint der Band in einer unlimitierten XXL-Ausgabe zum leistbaren Preis. Zum Konzept des Bandes meint Leibovitz: „Das Buch ist sehr persönlich und erzählt seine Geschichte mit den Mitteln der Popkultur. Es ist nicht chronologisch geordnet, und es ist keine Retrospektive. Es ist eher so etwas wie eine Achterbahnfahrt.“ Das Vorwort stammt von Steve Martin und ist entsprechend komisch – so erzählt der Schauspieler, Regisseur und Autor etwa, dass Leibovitz voll bekleidet in seinen Swimmingpool watete, um den perfekten Winkel für ein Porträtfoto zu finden (und, wenn man Martin glauben will, dabei fast ertrunken wäre).
Die Aufnahmen selbst sind ein Who-is-Who des Showbusiness der letzten dreißig Jahre, vierzig Jahre: Da wird die Coolness der Blues Brothers Dan Aykroyd und John Belushi durch blaue Schminke noch verstärkt (1979), während Arnold Schwarzenegger in Malibu als Herrenreiter – nackter Oberkörper, Zigarre – auf einem Schimmel sitzt (1988) und ein introvertierter Michael Jackson in Fantasieuniform vor mehreren Spiegeln posiert (1989). Monty-Python-Mitbegründer John Cleese hängt als eine Art Fledermaus kopfüber von einem Ast (1990), dem damals noch als Rapper bekannten Mark Wahlberg werden am Strand die Boxershorts von einem Hund beinahe heruntergerissen (1993), Jack Nicholson erweist in einer nächtlichen Szene am Mulholland Drive mit Hut und Mantel seiner Detektivrolle in Chinatown Reverenz (2006), Cate Blanchett gibt auf einer Theaterbühne in Sydney einen Harlekin (2008) und Satiriker Stephen Colbert steht als Napoleon verkleidet auf seinem Schreibtisch (2012).
Dabei sind natürlich auch die ganz berühmten Fotos: Der nackte John Lennon, der sich an Yoko Ono klammert (und wenige Stunden später erschossen wurde, 1980), Whoopi Goldberg grimassierend in einer mit Milch gefüllten Badewanne (1984), das Aktfoto der hochschwangeren Demi Moore (1991) oder die inmitten eines Prunkraums stehende Queen Elizabeth (2007). Mal sind es starke Bildideen, mal kleine Geschichten, in die Leibovitz ihre Protagonisten hineinsetzt; Geschichten, die ebenso amüsieren, wie sie die Fantasie beflügeln.
Doch nicht nur Einzelporträts sind im Band vertreten, sondern auch die bekannten – und sehr aufwendigen – Gruppenfotos, die von Legenden nur so wimmeln: Auf „TV-Westerners“ (1995) etwa sind Cowboyhut-Träger von Lee Majors (The Big Valley) über Clayton Moore (The Lone Ranger) bis David Carradine (Kung Fu) in einem Saloon zu sehen – und das alles im Stil einer alten Wild-West-Schwarzweißaufnahme. Noch mehr zu entdecken gibt es auf „Paramount Pictures’ 90th anniversay“ (2002). Auf einem Gerüst am Studiogelände versammelt sind 42 Superstars, zu denen u. a. Tom Cruise, Harrison Ford, Sharon Stone, Nicolas Cage, Al Pacino, Catherine Zeta-Jones, Robert Downey, Jr., Patrick Swayze oder „MacGyver“ Richard Dean Anderson gehören. So viele Wunschkandidaten an einem Tag an einem Ort zu vereinen, kann nicht ganz einfach gewesen sein. Fotos wie dieses legen auch Zeugnis vom professionellen Ruf ab, den Leibovitz seit langem genießt. Vorliegender Band wird somit gleichermaßen Freunden der Fotografie gefallen, wie er Fans von Promis zufriedenstellen sollte.
Annie Leibovitz SUMO
Annie Leibovitz, Steve Martin,
Graydon Carter, Hans Ulrich Obrist, Paul Roth
Taschen, 2022, Hardcover im Schuber
27,1 x 37,4 cm, 556 Seiten, 5,80 kg
www.taschen.com