Gerade mal 5 % des Verkehrsaufkommens in Wien fallen auf das Fahrrad. Das ist nicht viel. In München werden dreimal so viel Wege innerstädtisch mit dem Fahrrad zurückgelegt. Aber in Wien leben erstaunlich viele Rad-Aficionados, tierlieb im Hinblick auf den Drahtesel und offen für die kultur- bzw. designgeschichtliche Bedeutung des oberschenkelbetriebenen Fortbewegungsmittels. Kein Wunder also, dass sie hier das Licht der Welt erblickten: die sattelfesten Denim-Hosen mit Namen Velo Stitch.
Nicht wenige Bekleidungstypen sind als Spezialausrüstung für sportliche Aktivitäten entstanden. Man denke an Poloshirts, Tennisschuhe oder Baseballkappen. Die hohe Popularität des Radfahrens am Ende des 19. Jahrhunderts blieb auch nicht ohne Auswirkung auf die Mode. Das Radeln, damals am Hochrad, begründete die Verbreitung der wadenlangen Knickerbockerhose. Für Frauen entstanden bauschige Knickerbocker und Radfahrkostüme mit geteilten Röcken. Die robusten, nieten-verstärkten Hosen aus Baumwollstoff, die aus Genua stammen und deshalb Jeans genannt werden, gehören nicht zur Sport-Couture. Sie wurden ursprünglich für die materialaufreibende Arbeit der Goldgräber in den USA gemacht.
Die Idee
Die Produktidee zur Radfahrjeans entspringt dem Zusammenwirken zweier Kreativszenen, die gemeinsam eine Veranstaltung planen: Die „Gebrüder Stitch“ fertigen seit kurzem und höchst erfolgreich maßgeschneiderte Blue Jeans in ihrem so genannten Beta-Store in der Wiener Gumpendorfer Straße. Die Newcomer im Modebusiness bieten einen überzeugenden Gegenentwurf zur textilen Massenware und fertigen die Jeans à la carte.
Markus Böhm (Ex-Betreiber des „Radlager“) inszeniert temporäre Radverkaufsausstellungen, so genannte „Radlager-Pop-ups“. Ein solches Pop-up soll bei den Gebrüdern stattfinden. Dabei nimmt die Idee zur Jeans fürs Rad Gestalt an, beim Italien-Pop-up Anfang Juni wurde sie erstmals präsentiert.
Gebrüder Stitch
Moritz Piffl und Michael Lanner sind nach eigenen Angaben „Marketingfuzzis“ und unbelastet von jeglicher Art Schneider-Fachwissen, als sie in die Bekleidungsbranche wechseln. Die Geschäftsidee ist klar umschrieben: Herstellung von Jeans in Maßfertigung. „Anfänglich hielt es kaum jemand für möglich, dass so ein Projekt überhaupt machbar ist“, erzählt Moritz. „Es gab eigentlich nur Argumente dagegen. Wir sind vom Erfolg der Idee selbst total überrascht.“ Mittlerweile steht fest: die smarten Gründer, die sich mittlerweile mit dem Modedesigner Walter Lunzer verstärkt haben, und ihr Atelier auf Zeit im Ausstellungsraum in der Gumpendorfer Straße beziehen, setzen das sympathische Konzept gleich mitten in einige aktuelle Mode-Diskursfelder (Nachhaltigkeit in der Mode, Slow Fashion, Fair Trade, Individualisierung von Mode etc.).
Das Konzept beinhaltet, dass der Kunde nicht nur seine Maße, sondern auch ein paar Entscheidungen einbringen muss. Bis zu zehn Sorten indigofarbener Denim-Stoff, von kuschelweich bis bockhart, stehen zur Auswahl; ebenso kann die Farbe der Nähte oder die Farbe der Knöpfe gewählt werden. Auch die Bearbeitung der Hose in Form von Abreibungen vor dem ersten Waschen entscheidet, wie die Jeans später aussieht und sich in weiteren Waschgängen verhält. Mit dem erworbenen Wissen über Schneiderei wird irgendwann auch klar, wie fragwürdig die gegenwärtige industrielle Jeansproduktion in Fernost oder auch in Europa abläuft. Und auch, dass Unikatfertigung phantasievolle Lösungen notwendig macht: So sind etwa die Hosenknöpfe der maßgefertigten Jeans aus Porzellan, und der Futterstoff im Bund ist von Hand siebgedruckt.
Radlager
So selbstverständlich das Radlager zur Zeit seines Bestehens war, so legendär ist der Laden mit den von der Decke abgehängten Rennrädern und dem besten Espresso von Wien heute geworden. Jedenfalls ist die Atmosphäre des Raumes, der sich wie die ölverschmierte Garagenwerkstatt in einem altehrwürdigen neapolitanischen Palazzo anfühlte, unvergessen.
Markus Böhm veranstaltet seither so genannte Radlager-Pop-ups. „Nach der Schließung des Radlagers wollte ich kein Geschäftslokal auf Dauer mehr eröffnen. Ich wollte so kurz und so mobil wie möglich agieren, am besten nur jeweils wenige Tage. So entstanden die Radlager Pop-ups.“ Aber: „Der Geschäftsbetrieb als kurzfristige Mobilisierung einer Community, inszeniert an wechselnden Orten, hat auch seine Grenzen“, räumt Markus Böhm ein und kündigt an: Es wird doch wieder ein neues Radlager an einem festen Ort und mit erweitertem Sortiment geben“. Man darf gespannt sein.
Velo Stitch
Zurück zu den Radlerjeans. Mittlerweile stößt Christian Bezdeka zum Projekt. Ein Glücksfall, denn der Industriedesigner ist auf das Bike-Thema geradezu spezialisiert. Er entwickelt in kurzer Zeit ein Designprodukt mit verschiedenen Features, die den ganz speziellen Anforderungen entsprechen, denen strampelnde Beinkleider erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.
Die Velo Stitch Jeans verfügen über längsgerichtet Lüftungsschlitze an den Oberschenkeln, zur Kühlung der Muskulatur. Die Beinweite lässt sich mit einem innenseitig angebrachten magnetischem Clip regeln, einhändig – versteht sich. Der Bund ist vorne tief und rückseitig hoch geschnitten, der Schritt ist nahtfrei gestaltet. Die Gesäßtaschen sind so platziert, dass der Allerwerteste nicht auf den Taschen zu sitzen kommt. Sämtliche Nähte reflektieren Licht aus Sicherheitsgründen, und natürlich ist der Bereich der Beininnenseite, dort, wo die Hosenbeine an die Kurbel schlagen und abwetzen, doppelt verstärkt. Dazu kommt ein U-Lock Holster, eine Art Außentasche für das mitgeführte Fahrradschloss in U-Form.
„Reibt am Sattel die Rosette – Velostitch statt Hirsch¬talg-Fette“ heißt es markig auf der Website der Gebrüder Stitch. Sie sehen das Projekt im Zwischenbereich von funktioneller Sportbekleidung und modischen Jeans angesiedelt und setzen auf den urbanen Biker als Zielgruppe. Dabei ist die Full-Version der Velo Stitch schon eher ein Heavy-Use-Sportprodukt, gemacht für viele tausend Radkilometer im Jahr. Aber: entsprechend dem Konzept individueller Menü-Zusammenstellung können einzelne Velo-Features auch gezielt ausgesucht und in eine reguläre Maß-Jeans integriert werden!
Derzeit wird die kombinierte Sport- und Freizeithose Velo Stitch als Unikat im Beta-Store der Gebrüder Stitch gefertigt, Christian Bezdeka denkt aber bei genügend Nachfrage auch an eine Kleinserie für den Fahrradfachhandel. Der derzeitige Preis für die Velo Stitch liegt, je nach Features, zwischen 300 und 400 Euro. Viel Geld für Hosen, aber wirklich Fair Trade für ein maßgefertigtes Design-Unikat – made in Gumpendorf.