Eines wollte der italienische Regisseur Luca Guadagnino von Anfang an klarstellen: Die thematische Wahl seines fleischigen Coming-of-Age-Horrors „Bones and All“ war in keiner Weise inspiriert von den mutmaßlich kannibalistischen Sex-Gelüsten Armie Hammers, seinem Hauptdarsteller in Call Me by Your Name. Die Adaption des gleichnamigen Young-Adult-Bestsellers von Camille DeAngelis, der von zwei jugendlichen Kannibalen handelt, war längst von Drehbuchautor Dave Kajganich in Arbeit, als Hammers bizarre Fantasien ruchbar wurden und ihn seine Filmkarriere kosteten. Umgekehrt verdankt sein Filmpartner, der junge Amerikaner Timothée Chalamet, dem Drama Call Me by Your Name seinen internationalen Durchbruch und eine Oscar-Nominierung. In Guadagninos neuem, exzentrischen Roadmovie „Bones and All“, das auf dem Filmfestival in Venedig im Wettbewerb gezeigt wurde, übernahm er wieder eine Hauptrolle. Chalamet spielt darin einen jugendlichen Drifter mit perverser Vorliebe: Er ist Kannibale – und verspeist mit blutverschmiertem Gesicht Menschenfleisch.
Zur Vorbereitung für Bones and All habe er seinen Darsteller und Darstellerinnen Filme über radikale Außenseiter ansehen lassen, berichtete Guadagnino in Interviews; dazu gehörten Agnès Vardas Vagabond oder Chantal Akermans Jeanne Dielman, aber auch Rossellinis Deutschland im Jahre Null.
Tatsächlich zählen Außenseitertum und die Suche nach Identität zu Guadagninos Lieblingsthemen; zuletzt variierte er sie eindrucksvoll in seiner exzellenten Teenager-Serie We Are Who We Are. Auch seine Vorliebe zum Schocker-Genre zeigte Guadagnino bereits in Form seines (überfrachteten) Remakes von Dario Argentos Hexen-Horror Suspiria. In Bones and All fließen sein Interesse am jugendlichen „rite of passage“ und am Grusel kongenial zusammen. Erzählt wird eine seltsam zärtliche Coming-of-Age-Geschichte mit den drastischen (und in Maßen eingesetzten) Gore-Effekten eines Horrorfilms, angetrieben vom Motor des Roadmovies – mit Verweis auf „Teenager on the Run“-Klassikern wie Badlands. Eine Highschool-Schülerin namens Maren – gespielt von Taylor Russell, die dafür in Venedig als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet wurde – lebt mit ihrem Vater in ärmlichen Verhältnissen, irgendwo in Ronald Reagans depraviertem Amerika der achtziger Jahre. Eine Schulkollegin lädt sie zu einer Übernachtungsparty ein. Die Stimmung ist gut und die Girls plaudern, als Maren von einer merkwürdigen Erregung ergriffen wird: Völlig unvermutet steckt sie den kleinen Finger ihrer Freundin in den Mund. Doch was im ersten Augenblick einen erotischen Impuls vermuten lässt, entpuppt sich als kannibalistischer Akt: Maren beißt dem Mädchen den Finger ab und isst ihn.
Als Marens Vater die blutverschmierte Tochter vorfindet, packt er sofort den gesamten Haushalt zusammen, verwischt alle Spuren und reist mit ihr ab. Es wird klar, dass das Ereignis kein Einzelvorfall war, sondern die Lebensgeschichte von Vater und Tochter bestimmt, seid Maren als Kleinkind ihre Babysitterin zerfleischt hat. An ihrem 18. Geburtstag wird Maren von ihrem Vater verlassen. Die Elterngeneration ist weggebrochen, nun ist Maren auf sich allein gestellt. Der Wunsch, ihre schon lange verschollene Mutter wiederzufinden und ihr eigenes Schicksal zu ergründen, treibt sie, mit einer vagen Adresse in der Hand, quer durch den mittleren Westen. Der Prozess der Selbstfindung nimmt eine bedrohliche Wendung, als Maren auf nächtlicher Landstraße einen älteren Herrn (Mark Rylance) in groteskem Outfit trifft, der sich ihr als Sully vorstellt. Er habe sie gerochen, erklärt Sully der verstörten Maren, er sei auch ein „Eater“. Sully macht sie mit einer wichtigen Regel vertraut: „Eater essen keine anderen Eater“. Etwas später wird Maren auf den jungen Kannibalen Lee (Chalamet) treffen, der sich ebenfalls permanent „on the road“ befindet. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Liebesbeziehung, in deren unmittelbarem Umfeld Sexualität und Gewalt blutig ineinandergreifen …
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BONES AND ALL
Horror-Drama, Romanze, Italien, USA 2022
Regie: Luca Guadagnino; Drehbuch: David Kajganich; Kamera: Arseni Khachaturan; Musik: Trent Reznor, Atticus Ross
Mit Timothée Chalamet, Taylor Russell, Michael Stuhlbarg, Chloë Sevigny, Mark Rylance, David Gordon Green, Jessica Harper, Francesca Scorsese, Anna Cobb
Verleih Warner Bros.
Filmstart: 25. November 2022