Wenn wir uns Fotografien des letzten Jahrhunderts anschauen, sind wir oft geblendet von der Nostalgie, durch deren zeitliche Brille wir auf die Menschen und Szenerien der Vergangenheit schauen. Jene Brille scheint bei den Arbeiten des österreichisch-amerikanischen Fotografen Ernst Haas wenig relevant, sein malerischer Ausdruck verfügt über eine gegenwärtige Gültigkeit. Die einzige Nostalgie, die man empfindet, ist, wenn überhaupt, eine Melancholie der Gegenwart, in der das visuelle Verfügen uns womöglich mehr im Sehen einschränkt, als beschenkt: Das Fotografieren ist für fast jeden zu einem zusätzlichen Organ geworden, mit dem wir unsere kleinen tragbaren Erinnerungskapseln befüllen. Aber während wir uns unserer 12-Megapixel-Snapshots erfreuen, scheint der Tenor der Kunstfotografie eine Neigung zum Extravaganten zu haben. Nachdem das Fotografieren so niederschwellig verfügbar wurde, pilgern Fotografinnen und Fotografen in die abgelegensten, fantastischsten Gebiete, auf der Suche nach surrealen Motiven. Wenn man den mit nur 62 Jahren verstorbenen Ernst Haas zu dieser Tendenz befragen würde, bekäme man womöglich die vielzitierte Aussage zurück: „I am not interested in shooting new things – I am interested in seeing things new.“
Ernst Haas, der mit seiner Nachkriegsfotografie internationale Aufmerksamkeit erregte, als späterer Wahl-Amerikaner aus Österreich in die USA emigrierte, war in vielerlei Hinsicht schwer einzuordnen und wurde gerade dadurch zum Pionier. In Wien arbeitete Haas, der an der Graphischen Lehr- und vesuchsanstalt studiert hatte, als freier Fotojournalist; 1947 verwendete das Rote Kreuz seine Fotos zur Identifizierung von Kriegsopfern, die nachträglich in „LIFE“ veröffentlicht wurden. Dies führte zu einer Einladung von Robert Capa, dessen neu gegründeter Fotoagentur Magnum beizutreten. 1950 wurde Ernst Haas dann Vollmitglied bei Magnum, 1960 Präsident dieser Agentur.
Der Wechsel in die Vereinigten Staaten eröffnete Haas neue kreative und kommerzielle Möglichkeiten, wie er reflektierte: „Rückblickend denke ich, dass meine Verwandlung in die Farbe psychologisch recht gut war. Ich werde mich immer an die Kriegsjahre erinnern, einschließlich mindestens fünf bitterer Nachkriegsjahre, wie die Schwarzen und Weißen, oder noch besser, die grauen Jahre. Die grauen Zeiten waren vorbei. Wie den Beginn eines neuen Frühlings wollte ich die neuen Zeiten in Farbe feiern, erfüllt von neuer Hoffnung.“ Er begann zu experimentieren mit dem relativ neuen Medium des Farbdiafilms, wie er anmerkt: „Der Wechsel kam ganz natürlich. Ich sehnte mich danach, brauchte es, ich war bereit dafür, und es gab einen Film, mit dem ich arbeiten konnte. Wir schrieben das Jahr 1949, und der Film war Kodachrome mit einer charakteristisch reichen, tief gesättigten Farbpalette.“ Haas blieb ihm für den Rest seiner Karriere treu, und hatte nie einen Grund gesehen, andere Materialien auszuprobieren …
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Ernst Haas
The Art of Seeing
Ausstellung
bis 12. Februar 2023
Fotomuseum WestLicht
1070 Wien
Ernst Haas
The American West
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Prestel Verlag, München
Hardcover, 25 x 30 cm, 208 Seiten