Grau, aber sexy. So stellte sich die dahinsiechende Industriestadt Sheffield in den Achtzigern für eine Band dar, die schon im Namen die Liebe zum Trashigen trug: Pulp. Die Band packte uns teure Gefühle in billige Sounds. Sie führte die Sehnsüchte der Jugend als sozialistische Melodramen auf. Durch die Straßen und Clubs jagen, auf Samstagnacht warten, jemanden finden, aufwachen, ein neuer Abend mit „Top of the Pops“ im Jugendzimmer.
Pulps erste LP It erschien 1983. Es dauerte einige episch-hysterische Popstücke, bis die Band 1995 mit dem Discoglam-Superhitalbum Different Class zur größten und aufregendsten Anti-Britpopband aller Zeiten avancierte. Wer ist besser, Blur oder Oasis? Klarer Fall: Pulp.
Geprägt vom Working-Class-Background des Leadsängers Jarvis Cocker, rankte sich Pulps Œuvre um Themen wie Klasse, Sex und urbanes Leben in der „Disco 2000“, oft auch aus Sicht von Frauen. Zwischen ihrem wenig beachteten Anfangsjahrzehnt und dem Pulp-Hype um 1995 lag eine Zeit, in der der Sozialismus sozialen Kontakten gewichen ist, wie es die spöttisch-treffsichere Lyrik des sexiest Krankenhausbrillenträgers alive formulierte.
Bis 1999 hieß der schlacksige Jarvis Cocker mit dem zuckenden, eigentümlich verqueerten Tanzstil auf der Insel nur Jarvis. Das musste reichen – auch als Titel für Cockers zweites Soloalbum 2006. 1999 lieferte das Kollektiv aus fünf sehr unterschiedlichen Gemüts- und Interessenslagen zwischen Scott Walker, Acid House, Velvet Underground, Klassik und Punk mit This Is Hardcore einen frostigen Kommentar zu Zweifel und Begehren im fortgeschrittenen Popalter ab. Zum Abschied, nach dem introvertierten Album „We Love Life“ von 2001, wurde ein Song gereicht, der an den Bergarbeiterstreik aus dem Jahr des Debütalbum 1983 erinnerte. Darin heißt es ganz am Ende: „Seems the last day of the miners’ strike was the Magna Carta in this part of town“.
Pulp war immer auch eine träumerische Idee. Das zeigte sich sowohl in der musikalischen Liebe zum Flohmarktsynthies und aufgegeilten Krautrockbeats wie auch in der Faszination für die ruinöse Modernität der Architektur und die morbide Entfremdetheit moderner Gefühle und Begehrensformen. „Lipgloss“ etwa, ein Songthema, das Tiefe hat, weil es etwas über die Oberfläche zu sagen hat.
Zentral für Jarvis Cocker, der nun vor allem in Paris lebt, war lange Zeit seine Erinnerung an „Sheffield Sex City“. Bei der Viennale liefen zwei Filme mit Bezug auf die nordenglische Stadt. Florian Habicht gestaltete die Doku Pulp. A Film about Life, Death and Supermarkets über das zweite Leben der Pulp-Hymnen wie „Help the Aged“ oder „Common People“ in den Herzen und Kehlen der Fans anlässlich des phänomenalen letzten Sheffield-Konzerts von Pulp 2012. Martin Wallace montierte in The Big Melt Archiv-Footage-Material über das industrielle Erbe der Stadt. Den atmosphärischen Sound dazu lieferte Jarvis Cocker. Anlässlich der beiden Filme war Cocker in Wien zu Gast und gab ganz im Stil einer „different class“ im Hotel Sacher das folgende Interview.
Was für eine Beziehung haben Sie zu Sheffield?
Man wird seine Heimatstadt niemals los. Ich dachte immer, die Stahlindustrie dort hat nichts mit mir zu tun. Aber die Geräusche der riesigen Maschinen ließen tatsächlich die Gebäude in meiner Gegend vibrieren. Ich glaube, das erklärt auch, warum die Musik in Sheffield immer sehr basslastig war. Die Kinos mussten die Filme immer in doppelter Lautstärke spielen, weil die Leute alle halbtaub waren.
Hat dieser Sound die Rolle eines Instruments bei Pulp gespielt?
Ich finde auch in Phänomenen wie einer industriellen Landschaft so etwas wie Erotik. Das war bei Pulp immer wichtig. Nachdem ich von zuhause ausgezogen war, lebte ich mit einem Freund zusammen in einer Industriezone im Stadtzentrum. Wenn wir nachts nach Hause kamen, war die Gegend komplett leer, wie ein verlassenes Filmset. Es fühlte sich so an, als hätte man alles verpasst. So, als ob es einmal eine Zivilisation gegeben hätte und man jetzt durch ihre Ruinen stapfen würde. Manchmal sind wir da einfach eingebrochen, nur um uns anzusehen, was in den Gebäuden drinnen war.
Pulp hat sich im Look und im Sound immer wieder auf die siebziger Jahre bezogen. War Pulp ein nostalgische Popband?
Ja. Wir waren keine sehr guten Musiker. Aber damals wollte man entweder Astronaut oder Popstar werden. Aber als Band haben wir uns doch von früheren Bands aus Sheffield wie Cabaret Voltaire oder Human League unterschieden, die den Elektronik- und Industrieaspekt ganz offensichtlich in die Musik gepackt haben. Wir hatten schon auch Synthesizer drinnen, aber mein wichtigster Einfluss als Schüler war, jeden Abend John Peel im Radio zu hören.
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.