Es gibt solche Blondinen und solche, das ist heutzutage fast schon ein geflügelter Witz. Alle Blondinen haben ihre Mucken, mit Ausnahme vielleicht nur der wasserstoffblonden, die jenseits der Chemie so blond sind wie ein Zulu und von Gemüt so glatt wie ein Bürgersteig. Da gibt es das kleine süße Blondchen, das piepst und zwitschert, und die große statuenhafte Blondine, die nur einen einzigen ihrer eisblauen Blicke braucht, um einen auf Distanz zu halten. Da gibt es die Blondine, die hinreißend zu einem aufschaut und ebenso hinreißend duftet und schimmert und einem am Arm hängt und die dann immer so sehr, sehr müde ist, wenn man sie heimbringt. … Da gibt es die sanfte und willige Blondine mit dem Hang zum Alkohol, der ganz egal ist, was sie anhat, solange es nur Nerz ist, oder wohin man mit ihr geht, solange es nur das ,Starlight Roof‘ ist und der trockene Champagner in Strömen fließt. Da gibt es die kleine kesse Blondine, die ein bisschen bleich ist und für sich selber zahlen will und voll Sonnenschein und Mutterwitz steckt und Judo gelernt hat und einen Lastwagenfahrer mit einem Schulterschwung aufs Kreuz legt … Da gibt es die blasse, sehr blasse Blondine, die an einer zwar nicht tödlichen, aber unheilbaren Form von Anämie leidet. … Und schließlich gibt es da die Superblondine, das Prachtstück zum Vorzeigen, das drei Klassegangster hinter sich bringt und dann ein paar Millionäre heiratet, für eine Million pro Kopf.“ Raymond Chandlers Blondinenkategorien, 1954 in „The Long Goodbye“ veröffentlicht, mögen nicht mehr ganz up to date sein, und auch sein Held Philip Marlowe kommt angesichts seiner zukünftigen Klientin – „der Traum gegenüber gehörte zu keiner dieser Klassen, nicht einmal zu ihrer Welt“ – nicht damit aus. Aber ein bisschen muss man schon dran denken, wenn Naomi Watts auftritt, denn Naomi Watts ist sehr, sehr blond. Und auch noch mit 42 Jahren trägt sie eine wippende Mähne: gepflegt gescheitelt zwar, aber in einem so strahlenden Goldton, dass darunter der Rest der Person zunächst verblasst. Eine hübsche Blondine, denkt man, aber Naomi Watts bemüht sich, gegen das Klischee zu spielen, und das schafft sie in ihren neueren Filmen vor allem durch konsequentes Underplay: Kühl und klar wirken ihre Figuren und bis zur Maschinenhaftigkeit effizient.
In Woody Allens neustem Werk „You Will Meet a Tall Dark Stranger“ gibt es eine Konfrontation zweier Blondinen völlig unterschiedlichen Formats: Da sitzen die elegante Sally (Watts), Assistentin in einer Londoner Kunstgalerie, und ihr Mann, ein Schriftsteller in der Schreibkrise (Josh Brolin) zum ersten Mal der neuen Frau von Sallys Vater (Anthony Hopkins) gegenüber: Charmaine (Lucy Punch) ist mindestens 40 Jahre jünger als der sich einer sehr späten Midlife Crisis hingebende Pensionist, hat eine spektakuläre Figur, von der das meiste außerhalb ihrer Garderobe zu sehen ist, und ein Schmollmündchen, das mühsam Halbsätze artikuliert. Sally dagegen trägt ein edles, zurückhaltendes kleines Schwarzes, und das Grauen angesichts der späten Frühlingsgefühle ihres Vaters und deren Auslösers verbirgt sie hinter einer marmornen Maske. Watts als Sally ist so erbarmungslos cool, dass einem das süß-doofe Blondchen fast leid tut. Und wenn sie sich dann doch einmal romantische Gefühle zu ihrem Chef gestattet – Antonio Banderas, ein viriles, stabiles Mannsbild mit sinnlichem Mund und großen, dunklen Augen, die Leidenschaft, Tiefe und vielleicht Sumpf versprechen, auch ein bisschen Melancholie und Herzschmerz – dann ist man froh, dass aus der Liaison nichts wird, denn so viel Unwägbares möchte man ihr nicht zumuten. Und ihm nicht diese Perfektion: Sie sieht in ihren grauen und schwarzen schlichten Couture-Kleidern umwerfend aus, aber sie wirkt darin so makellos, dass man ihren Chef verstehen kann, wenn er es vorzieht, ein Techtelmechtel mit einer seiner Künstlerinnen anzufangen. Nachdem Sally das erfahren hat, verliert sie zum ersten Mal in diesem Film die Fasson und wird zappelig, zickig und zornig – alles Regungen, die man ihr bis dahin nicht zugetraut hätte, und die deswegen umso überraschender wirken.
Interessanter und anspruchsvoller ist Watts‘ Rolle in einem weiteren neuen Film, „Fair Game“. In dem von Doug Liman inszenierten Polit-Thriller spielt sie eine hochrangige CIA-Agentin nach realem Vorbild: Valerie Plame und ihr Team sollen im Frühjahr 2002, also kurz nach 9/11, Beweise dafür finden, dass im Irak Atomwaffen produziert werden. Plame kontaktiert über eine Mittelsfrau Wissenschaftler im Irak, während ihr Mann, ein ehemaliger Botschafter, mit einem Sonderauftrag der CIA nach Niger fährt, von wo aus angeblich Uran in den Irak exportiert wird. Gegen die Recherche-Ergebnisse der CIA marschieren die USA in den Irak ein. Wenn man sein Erstaunen darüber überwunden hat, dass die CIA-Agenten in diesem Film einmal die Guten sind, dann stellt man sofort fest, dass Naomi Watts eine perfekte Repräsentantin der vom Außenministerium in die Enge getriebenen Behörde ist. Sie strahlt Effizienz und Seriosität aus – im knapp sitzenden Schneiderkostüm ebenso wie in lockeren, dem orientalischen Reiseland angemessenen sandfarbenen Gewändern. Und damit bringt sie ihre Gesprächspartner zum Reden. Aber sie scheut auch vor den Überredungstechniken nicht zurück, die man ihr vermutlich in der Agentenschule beigebracht hat: eine Mischung aus stahlharter Sachlichkeit, falscher Empathie und mehr oder minder subtilen Drohungen. Als Frau versucht sie das Vertrauen anderer Frauen zu gewinnen, und als eine Kontaktperson sie einmal fragt, wie sie das Doppelleben, das ständige Lügen ertragen könne, sagt sie: „Man muss wissen, warum man lügt, und man darf die Wahrheit nicht vergessen.“ Die innere Spannung, unter der sie steht, verbirgt sie durch äußerste Sachlichkeit: Ein „tough cookie, real tough“ ist sie in den Augen ihres Vaters. Zum dritten Mal steht Naomi Watts in diesem Film Sean Penn zur Seite: 2003 hatten sie in „21 Grams“, 2004 in „The Assassination of Richard Nixon“ (der es im deutschen Sprachraum nicht ins Kino schaffte) bereits bewiesen, dass sie auf besondere Weise harmonieren: Mit ihrem geradezu abweisend kühlen Habitus konterkariert Watts den Penn häufig eigenen Gestus der Zerquältheit und mühsam unterdrückten Wut. Wenn er ausfallend wird, bleibt sie so sachlich, dass er an ihrer Oberfläche abprallt. Nicht umsonst schwimmt Watts in „21 Grams“ als Therapie für die Trauer um ihre tödlich verunglückte Familie Bahn um Bahn; das Schwimmbadwasser scheint ihr Element zu sein, dessen Temperatur ihrer inneren zu entsprechen.
Den schauspielerischen Durchbruch schaffte die gebürtige Engländerin, die seit ihrem 14. Lebensjahr in Australien wohnt, mit einem Film, der ihren späteren Spitznamen „Queen of Remakes“ bereits rechtfertigte: 2001 hatte David Lynchs „Mulholland Dr.“ Premiere, in dem Watts eine Doppelrolle spielte. Das hatte sie schon zwei Jahre früher in dem von Lynch für die Leinwand adaptierten eigenen Fernsehfilm gleichen Titels getan, bloß hatte das außerhalb der USA niemand gemerkt. Dass sie plötzlich international wahrgenommen wurde, lag sicher weniger an ihrer schauspielerischen Leistung in „Mulholland Dr.“ als vielmehr an dem Hype, den David Lynchs künstlich verrätselte Filme auszulösen pflegen. Kurz darauf folgten die amerikanische Version des japanischen Horror-films „The Ring“ (2002) und dessen Sequel „The Ring 2“ (2005), „King Kong“ (2005), in dem sie Fay Wrays („The Queen of Scream“) Rolle des schreienden Riesengorilla-Opfers von 1933 einigermaßen überzeugend nachstellte, und die Somerset-Maugham-Adaption „The Painted Veil“ (2006), in dem 1934 bereits Greta Garbo in der gleichen Rolle reüssiert hatte. Das vorläufige Ende der Remake-Serie markierte Michael Hanekes „Funny Games U.S.“ (2007). Darin spielte Watts die Rolle der von zwei jugendlichen Unholden zu Tode gequälten Familienmutter weniger ausdrucksstark und mitreißend als Susanne Lothar im Original von 1997. Seltsam teilnahmslos, so hat man das Gefühl, versucht sie, effizient zu sein, ohne dass es ihr gelänge, das Richtige zu tun. Vielleicht aber gilt der Unmut, der einen angesichts des Haneke-Remakes ergreift, eigentlich dem Regisseur selbst, für dessen Shotby-shot-Nachstellung eines zehn Jahre alten Films man wenig Verständnis aufbringt. Watts jedenfalls muss das Projekt wichtig gewesen sein: Sie fungierte dabei genauso wie bei „The Painted Veil“ auch als Produzentin. Allzu glücklich war Watts mit der Auswahl ihrer Filme bis zu diesem Zeitpunkt nicht. Es scheint, dass Regisseure und Produzenten nicht wirklich wussten, was sie mit der hübschen Britin anfangen sollten; und vielleicht hat erst Tom Tykwer das Potenzial der kühlen Blonden erkannt, als er sie in seinem Polit-Thriller „The International“ (2009) als gegen eine des Waffenhandels und der Geldwäsche verdächtigte Bank ermittelnde Staatsanwältin einsetzte. Wie in „Fair Game“ steht Watts unter äußerster Spannung und wird zunehmend gehetzt, aber sie behält die Fassung: Fast unantastbar wirkt sie mitunter – wie ein Engel in Menschengestalt. Als solcher erscheint sie auch in David Cronenbergs Meisterwerk „Eastern Promises“ aus dem Jahr 2007, in dem sie ihre vielleicht anrührendste Rolle spielt – mit einer Wärme, die selbst das Herz eines Mafia-Killers (Viggo Mortensen) einen Moment lang erweicht: Als russisch-stämmige Hebamme Anna – ihr häufigster Rollenname übrigens – findet sie das Tagebuch einer bei der Geburt ihres Kindes gestorbenen russischen Prostituierten und macht sich auf die Suche nach deren Verwandten, um ihnen das Kind zu übergeben. Dabei stößt sie auf die russische Mafia in London und deren Machenschaften und fühlt sich seltsam hingezogen zu dem eleganten Maf oso, dessen Oberfläche noch glatter und perfekter ist als die der üblichen Watts-Figuren. In diesem Film ist sie ein bisschen verhuschter, unordentlicher, besorgter als sonst – und sehr mutig ohne die Macht eines Riesenapparates im Rücken. Gegen Ende des Films gibt es eine Vater-Mutter-Kind-Szene mit Mortensen, Watts und dem anonymen Baby, und da begreift man, warum ein anderer häuf g an Watts vergebener Rollenname Maria ist.
Demnächst wird sie womöglich Marilyn: Watts ist im Gespräch für die Hauptrolle in einem Film des Regisseurs Andrew Dominik, dessen epischer Western „The Assassination of Jesse James by the Coward John Ford“ 2007 für einiges Aufsehen bei der Kritik sorgte: Es handelt sich um eine Adaption von Joyce Carol Oates‘ Roman „Blonde“, der sich an der Biografie Marilyn Monroes orientiert. Die Watts als Monroe? Das scheint weit hergeholt. Es sei denn, alle blonden Frauen wären eben doch vor allem eins: Blondinen.
Ich sehe den Mann deiner Träume / You Will Meet a Tall Dark Stranger
ES/USA 2010 – Regie und Buch: Woody Allen Mit: Josh Brolin, Naomi Watts, Anthony Hopkins, Antonio Banderas, Lucy Punch, Freida Pinto, Gemma Jones
Fair Game
USA 2010 – Regie und Buch: Doug Liman Buch: Jez Butterworth, John-Henry Butterworth basierend auf den Büchern „The Politics of Truth“ von Joseph Wilson und „Fair Game“ von Valerie Plame Mit: Naomi Watts, Sean Penn, Michael Kelly, Noah Emmerich, David Andrews