Die Karriere des italienischen Theaterregisseurs Romeo Castellucci, 61, ist ein schönes Beispiel dafür, wie Konsequenz und Haltung in der Kunst zum Erfolg führen können. Bis vor 20 Jahren steckten seine Inszenierungen noch tief in der experimentellen Nische. File under: Geheimtipp für Extremisten. Kuratorinnen, Dramaturgen und andere Experten aber waren zusehends fasziniert vom Eigensinn, von der Radikalität und von der Kraft seiner Arbeit; sie pilgerten in die norditalienische Provinzstadt Cesena, wo Castellucci und seine Theatergruppe, die Socìetas Raffaello Sanzio, lebten und arbeiteten. Inzwischen gehört der ernste, hagere Mann längst zu Europas führenden Theater- und Opernregisseuren. Bei den Salzburger Festspielen etwa waren seine Inszenierungen von „Salome“ und „Don Giovanni“ umjubelt; im kommenden Sommer wird er dort Einakter von Béla Bartók und Carl Orff in Szene setzen.
Bereits Anfang April zeigen die Wiener Festwochen, als Prolog zum diesjährigen Festival, in der Halle E des MuseumsQuartiers Castelluccis Bühnenfassung von Mozarts „Requiem“. Ursprünglich hätte die Inszenierung schon bei den Festwochen 2020 gezeigt werden sollen, was damals aber wegen Corona nicht möglich war; dass die Aufführung erst jetzt und an einem ungewöhnlich frühen Termin stattfinden kann, hängt wiederum mit dem enormen Personalaufwand der Produktion zusammen: Das aus Orchester und Chor bestehende Ensemble Pygmalion – 2006 von Dirigent Raphaël Pichon gegründet – zählt insgesamt über achtzig Personen, dazu kommen weitere fünfundzwanzig Performerinnen und Performer; da ist es nicht immer ganz einfach, einen gemeinsamen Termin zu finden.
Als Wolfgang Amadeus Mozart im Alter von nur 35 Jahren verstarb, hatte er das „Requiem“ noch nicht zu Ende komponiert; sein Schüler Franz Xaver Süßmayr stellte das Fragment posthum fertig. Obwohl Mozart sein letztes Werk nicht für sein eigenes Begräbnis schrieb, ist es untrennbar mit dem Tod des Komponisten verbunden, um den sich wiederum diverse Mythen – war es Giftmord? – ranken. All das hat dazu beigetragen, dass das Mozart-Requiem bis heute zu den populärsten Kompositionen des Meisters zählt. Hauptverantwortlich dafür aber ist natürlich das Werk selbst; im Angesicht des Todes schuf Mozart eine Musik, die zum Tiefsinnigsten, Zärtlichsten und Ergreifendsten gehört, was nicht nur er selbst jemals komponiert hat.
Das natürliche Habitat der Totenmesse ist eine Kirche. Castellucci hat sie nicht nur auf die Theaterbühne transponiert, sondern auch ihren Charakter verändert: In der Aufführung wird weniger der Tod betrauert als das Leben gefeiert – dass in Mozarts Partitur beides drinsteckt, macht sie ja so meisterlich. Am Beginn der Inszenierung steht gleichwohl der Tod: Wir sehen eine alte Frau, die sich in ein Bett legt und darin verschwindet. Im Verlauf der folgenden 90 Minuten treten jüngere Alter egos der Frau in Erscheinung; es wird also retrospektiv das Leben der Verstorbenen aufgefächert. Eine lineare Handlung darf man sich dennoch nicht erwarten: In seiner „Musikmontage“ inszeniert Castellucci Bilder, die nicht immer eindeutig dechiffriert werden können. Nach und nach wird der weiße Bühnenraum mit Pigmenten eingefärbt; einmal wird ein junges Mädchen mit Honig übergossen, in einer anderen Szene steht plötzlich ein Autowrack mit barockem Heiligenschein auf der Bühne.
Dass Romeo Castellucci von der bildenden Kunst kommt, ist nicht zu übersehen. Aber im Unterschied zu anderen berühmten Künstler-Regisseuren wie Jan Fabre oder Robert Wilson manifestiert sich seine Handschrift weniger in einer bestimmten Ästhetik als im Zugriff auf die Stoffe. Besonders charakteristisch für Castelluccis Arbeit ist die harte Konfrontation von Kunst und Wirklichkeit. In „Giulio Cesare“ (Festwochen 1997) nahm er den Begriff „Sprechtheater“ beim Wort: Ein Darsteller führte sich eine Sonde in den Rachen ein, um Videobilder von seiner Stimmritze zu generieren. In „Sul concetto di volto nel Figlio di Dio“ (Festwochen 2013) pflegt ein Mann aufopfernd den greisen Vater, der seinen Stoffwechsel nicht mehr unter Kontrolle hat; das zwischen Würdelosigkeit und Barmherzigkeit angesiedelte Szenario findet unter den gütigen Augen eines überdimensionalen Christusbilds statt. In Castelluccis Inszenierung der Gluck-Oper „Orfeo ed Euridice“ (Festwochen 2014) wurde die ins Totenreich verbannte Eurydike von einer Wiener Wachkoma-Patientin verkörpert, die während der Aufführung per Live-Video aus der Klinik zugeschaltet wurde. Für „Le Metope del Partenone“ (Festwochen 2019) rekonstruierte der Regisseur in gruseligem Naturalismus Notarzteinsätze mit entsetzlich zugerichteten Unfallopfern, die nicht mehr zu retten sind.
„Mich verbindet mit den Festwochen nicht bloß Wertschätzung, sondern auch Freundschaft und Dankbarkeit“, sagt Castellucci, der nicht vergessen hat, dass das Festival ihn schon zu Zeiten eingeladen hat, als er noch eher berüchtigt als berühmt war: „La Discesa di Inanna“ war 1990 die erste Castellucci-Inszenierung bei den Festwochen; „Requiem“ ist die zwanzigste. „Castellucci ist einer der visionärsten Regisseure unserer Zeit“, sagt Festwochen-Intendant Christophe Slagmuylder. „Und ,Requiem‘ gehört für mich zu seinen besten Arbeiten. Wie diese Totenmesse zu einem Fest des Lebens wird, wirkt in Zeiten wie diesen besonders stark nach.“
Schockmomente gibt es in „Requiem“ keine. Das heißt aber nicht, dass die Außenwelt gar keine Rolle spielt: Während der gesamten Aufführung werden die Namen von ausgestorbenen Tierarten, zerstörten Bauwerken, verschwundenen Sprachen oder untergegangenen Völkern auf die Bühne projiziert. Castelluccis „Requiem“ ist auch ein Epitaph für alles, was auf dieser Welt untergegangen ist. Vieles hat die Menschheit im Lauf der Zeit schon verloren. Das Theater des Romeo Castellucci aber war nie lebendiger als heute.