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Über den Horizont

Saoirse Ronan zeigt in „The Outrun“ von Nora Fingscheidt eine schauspielerische Tour de Force.

Foto: Constantin Film

Jahrelang hatte sich Rona in London dem Suff ergeben, bis endlich alles in Trümmern lag: Beziehung, Job, Reputation – kaputt, verloren, zerstört. Nach glücklich überstandener Reha versucht sie nun in ihrer alten Heimat wieder Fuß zu fassen und kehrt zurück auf die Orkneys, hoch droben vor der Küste Schottlands. Sie nimmt einen Job bei einer Vogelschutzorganisation an und sucht auf einer der nördlichsten Inseln, der dünn besiedelten Papay Westray, nach dem selten gewordenen Wachtelkönig.

Es ist ein Neuanfang inmitten von so gut wie Nichts: Meer, Himmel, Erde. Vögel, Schafe, Robben. Bodenständige Menschen, die zu schweigen verstehen und Besseres zu tun haben als großstädtische Hipness-Spiele zu spielen. Und Wind, immer Wind. Mal tost er und mal säuselt er, er brüllt und er flüstert, seufzt und schreit, und er gleicht darin den unberechenbaren Gemütsbewegungen der Protagonistin. In der Natur findet Rona ein Gegenüber, dessen inhärentes Pathos der Massivität ihres inneren Aufruhrs entspricht. Und die Verantwortlichen für Kamera und Montage, Ton und Musik arbeiten Hand in Hand, An- und Abstoßung dieses komplexen Verhältnisses auf die Leinwand zu übertragen. The Outrun ist nach System-sprenger (2019) und The Unforgivable (2021) der dritte Langfilm von Nora Fingscheidt, er beruht auf den gleichnamigen (auf Deutsch unter dem Titel „Nachtlichter“ veröffentlichten), 2016 erschienenen Erinnerungen der 1986 geborenen Amy Liptrot an ihre eigene Alkoholsucht; mit Liptrot zusammen schrieb Fingscheidt auch das Drehbuch. In der Hauptrolle erkundet Saoirse Ronan ohne Berührungsängste und mit unbedingter Solidarität die Abgründe einer Figur, die endlich jene Vergangenheit konfrontiert, die ihre Gegenwart nicht mehr länger bestimmen soll.

Denn natürlich stand König Alkohol nicht eines Tages aus heiterem Himmel vor Ronas Tür und beanspruchte ihr Leben als sein Reich; er schlich sich allmählich an, gut versteckt hinter familiären Konflikten und Sorgen insbesondere um den psychisch instabilen, bipolaren Vater. Ronas hoffnungsfroher Aufbruch in die Freiheit, nach London, weg von der Elternkatastrophe, erweist sich als die genau falsche Bewegung, nämlich jene in den Untergang. Keine kann vor sich selbst davonlaufen, und so fallen die beiden Wortbedeutungen von „outrun“ – eine abgelegene Weide sowie jemanden/etwas hinter sich lassen – mit Ronas endgültiger Ausnüchterung auf Papay Westray in eins. Erst als sie sich nicht mehr entkommt, entkommt sie sich endlich.

 

THE OUTRUN
Drama, Großbritannien/Deutschland 2024
Regie: Nora Fingscheidt; Drehbuch: Nora Fingscheidt, Amy Liptrot; Kamera: Yunus Roy Immer; Schnitt: Stephan Bechinger; Musik: John Gürtler, Jan Miserre; Production Design: Andy Drummond; Kostüm: Grace Snell
Mit: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Nabil Elouahabi, Izuka Hoyle, Lauren Lyle, Saskia Reeves, Stephen Dillane
Verleih: Constantin Film, 118 Minuten
Kinostart: 5. Dezember 2024

 

| FAQ 78 | | Text: Alexandra Seitz
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