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Unrechts-System

Sebastian Meise beleuchtet in seinem einfühlsamen Drama „Große Freiheit“ die staatlich sanktionierte Verfolgung Homosexueller im Deutschland der Nachkriegszeit.

Schweigend sitzt Hans Hoffmann (Franz Rogowski) auf der Anklagebank, während ihm in trockener Juristensprache sein „Sündenregister“ vorgelesen wird. Das beschränkt sich auf eine Aufzählung erotischer Aktivitäten, doch weil Hans diese mit Männern ausgeübt hat, fällt das in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1968 unter den berüchtigten Paragraphen 175, der Homosexualität unter Strafe stellt. Zu 24 Monaten Haft wird Hans verurteilt, in der Justizvollzugsanstalt trifft er auf Viktor, der wegen eines Tötungsdelikts eine langjährige Gefängnisstrafe verbüßt. Es ist ein erneutes Wiedersehen, denn Hans ist zum wiederholten Mal Opfer des „175er“ geworden, im Verlauf seiner Gefängnisaufenthalte begegnet er immer dem dort inhaftierten Viktor. Rogowski und Georg Friedrich verstehen es, diese beiden so ungleichen Charaktere mit allen ihren Nuancen zu verkörpern, und die langsame, aber stetig intensiver werdende Annäherung plausibel zu machen.

Auf drei miteinander verwobenen Zeitebenen verhandelt Sebastian Meise in Große Freiheit die Folgen der mit dem Paragraphen 175 verbundenen Restriktionen, die die Existenz des Protagonisten Hans Hoffmann massiv beeinträchtigen. Der vielleicht bedrückendste Moment, der das schreiende Unrecht samt der perfiden Absurdität dieses Gesetzes deutlich macht, wird in einer 1945 kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs spielenden Szene deutlich: Die markiert die erste Begegnung von Hans und Viktor hinter Kerkermauer. Als Viktor seinen Zellengenossen auf eine eintätowierte Nummer in dessen Arm anspricht, stellt sich heraus, dass Hans bereits von den Nazis wegen seiner Homosexualität in ein Konzentrationslager verbracht wurde und nun den Rest dieser Strafe in einem Gefängnis Nachkriegsdeutschlands absitzen muss. Ein Urteil der Nazi-Justiz als Kontinuität in einem Land, das sich anschickt zur Demokratie zurückzukehren – trefflicher lässt sich das Unrecht von Paragraph 175 kaum beschreiben.
Fast ausschließlich fokussiert Sebastian Meise auf die diversen Gefängnisaufenthalte von Hans; seine Inszenierung verdeutlicht damit welche tragischen Folgen es nach sich ziehen muss, wenn der Staat sich anmaßt, Lebensentwürfe vorzugeben und die Nichtbefolgung drakonisch zu sanktionieren. Erst 1969 wurde der 175er entschärft – in Österreich wurde mit dem entsprechenden Paragraph 1971 so verfahren –, bis zu seiner endgültigen Abschaffung in Deutschland sollten noch weitere 25 Jahre vergehen.


Große Freiheit

Österreich/Deutschland 2021
Regie: Sebastian Meise Drehbuch: Thomas Reider, Sebastian Meise, Kamera: Crystel Fournier
Mit: Franz Rogowski, Georg Friedrich, Thomas Prenn, Anton von Lucke
Verleih: Filmladen

 

| | Text: Jörg Schiffauer
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