Obwohl Przemysław Wojcieszek nie Film studiert hat, ist er seit 2005 Dauergast auf der Berlinale mit Filmen, die sich dramaturgischen Konventionen verweigern und Zeitgeist und Tabu-Themen konsequent auf den Punkt bringen. Analytische Provokationen aus der Innenperspektive der polnischen Provinz.
Mit seiner rastlosen Energie kommt der 39-jährige Filmemacher, der es seit 1999 auf einen mittellangen und fünf Langspielfilme sowie mehrere Theaterstücke gebracht hat, schnell auf die politische Kultur in seinem Heimatland zu sprechen. Auf den dortigen roten Teppichen ist er nur selten zu sehen: Wojcieszek lebt in der Kulturmetropole Wrocław, hält Distanz zu der auch in Polen von Bruder- und Schwesterküssen, Neid und Nachrede geprägten hauptstädtischen Filmszene.
Nachdem er sein Studium der polnischen Literatur abgebrochen und eine Weile in Schweden gearbeitet hatte, zog Wojcieszek, der in einem Vorort von Wrocław aufgewachsen ist, nach Krakau, wo er als Platzanweiser in einem Kino arbeitete. Damals schrieb er sein erstes Drehbuch: „Ich habe endlich wieder Filme auf der großen Leinwand gesehen und mit dem Schreiben angefangen. Das ist ja das einzige, was man ohne Geld und ohne Kontakte machen kann.“ Dabei entstand das Drehbuch zu Montag (Poniedziałek), das innerhalb eines Jahres verfilmt wurde: „Von nun an war ich kein Nobody mehr, mein Name stand im Abspann.“ Den Film, der 1998 unter der Regie des Kies´lowski-Kameramanns Witold Adamek entstand, mochte er allerdings nicht und beschloss, künftig selbst als Filmemacher zu arbeiten.
Nach seinem Regiedebüt, dem einstündigen Kammerspiel Kill them All (Zabij ich wszystkich, 1999), verschlug es Wojcieszek in jenes Milieu, in dem er sich am besten auskannte: Louder than bombs (Głos´niej od bomb, 2001) diskutiert Heimat und Heimatlosigkeit junger Erwachsener in der schlesischen Industrieprovinz. Mit Understatement und doppelbödigen Zwischentönen beobachtet Wojcieszek seine 20-jährigen Helden zwischen Sinnsuche und Augenblick, Traum vom Auswandern und bodenständigem Rhythmus der Kleinstadt, zwischen Familienfeier und Posen, abgeguckt aus Filmen und von Plattencovern der internationalen Popkultur.
Der Titel von Louder than Bombs bezieht sich auf das gleichnamige Album der britischen Indie-Band „The Smiths“. Immer wieder verweist Wojcieszek in seinen Filmen auf angelsächsischen Indie-Pop. Down Colourfull Hill (W dół kolorowym wzgórzem, 2004), so der Titel seines zweiten Spielfilms, hieß auch das 1992 erschienene Debütalbum der „Red House Painters“, die Kapitel von Made In Poland (2010) sind nach Punk-Songs der 1970er- und 1980er-Jahre benannt. Den aktuellen Film wird er wahrscheinlich How to disappear completely nennen, nach einem Song von „Radiohead“. Wojcieszek transportiert das Lebensgefühl von 4AD und Factory Records in die polnische Provinz, diese mit coolen Posen und der stetig zweifelnden Abwartehaltung des Postidealismus versiegelte Mischung aus Misstrauen und Aufbruch. Coming-of-Age-Szenarien, wie sie sich, regional variiert, in ganz Europa zugetragen haben, um in den Nachwendejahren eine Renaissance im Osten Europas zu erleben.
Wojcieszek erzählt, wie die DJs des staatlichen Radios in den 1980er-Jahren – im Kommunismus gab es ja keine Copyright-Gesetze – ganze Alben von U2 und Depeche Mode gespielt und nach 45 Minuten extra eine Pause gemacht haben, damit man beim Aufnehmen die Kassette umdrehen konnte: „Für meine Generation war diese Musik das Ein und Alles. Die Musik der 1980er und 1990er ist für mich noch immer eine Art Blaupause, mit der ich alles vergleiche, was heute herauskommt.“ Und eine Möglichkeit, sich einer zentralen Zwangsneurose der politischen Kultur Polens zu entziehen: „Ich habe große Probleme mit der Fixierung auf Geschichte und der damit verbundenen Zwangsvorstellung, dass wir in Gottes Auftrag handeln“, holt Wojcieszek zu einem nachdenklichen Rundumschlag aus. „In Polen bezeichnet man das als Messianismus. Die eigentliche Quelle des polnischen Selbstverständnisses, des Nachdenkens über die Rolle Polens in der Welt ist noch immer die Romantik, woraus wir unsere zivilisatorische Mission ableiten. Und eine gewisse Feindschaft gegenüber Russen und Deutschen, da wir ja kultivierter sind, strenggläubiger, mehr gelitten haben – und somit den verloren gegangenen Werten Ost- und Westeuropas die Möglichkeit geben, in unserem Innern zu überwintern. Die Katastrophe, als unser Präsident vor zwei Jahren bei einem Flugzeugabsturz zu Tode kam, ist schleichend zu einem quasi-religiösen Kult mythologisiert worden. Wir mögen zwar behaupten, eine säkulare, moderne Gesellschaft zu sein, in Wirklichkeit aber leben wir noch immer in einer Art Abrakadabra. Ich habe Probleme mit dieser Kultur, und deshalb hatte ich in meiner Oberschulzeit dieses Verlangen nach anglo-amerikanischer Popmusik.“
Eine geistige Enge, die unter anderen Vorzeichen auch in anderen Ländern Kontinentaleuropas zu spüren ist. Was Wojcieszeks Filme so universell macht: dort die Fixsterne London, Liverpool und New York als poppige Zufluchtsorte, hier der Muff der Kleinstadt. Ein geistiger und lebensweltlicher Spagat, den Wojcieszeks Protagonisten in Louder than Bombs, dem ungewöhnlichen Familiendrama Down Colourful Hill und dem augenzwinkernd-slackernden A Perfect Afternoon (Doskonałe popołudnie, 2005) mit einer gewissen Portion Leichtigkeit absolvieren.
Ganz anders in dem zornigen Made in Poland. Der Graben zwischen der Solidarnos´c´-Generation und ihren Kindern, der sich in A Perfect Afternoon bereits andeutete, ist hier vollkommen aufgebrochen. Dazwischen hatte sich seit 2005 die konservative Regierung Kaczyn´ski geschoben, fing an, auf ähnlicher Linie wie der klerikal-konservative Radiosender Maryja nach nationaler Wiedergeburt zu rufen. Bogus´, spätpubertäre Ein-Mann-Armee aus der Plattenbausiedlung, protestiert gegen alle – gegen den gescheiterten Sozialismus und den stagnierenden Kapitalismus, gegen die Schlager von gestern und die Träume von heute. Ein hooliganistischer Rebel without a cause, der, gepaart mit dem psychoanalytischen Befund der Ich-Schwäche, das Ende der Träume aus den späten 1990er-Jahren markiert: „No future“, oder „Fuck off“, wie er es sich auf die Stirn hat tätowieren lassen, wird von der kultigen Phrase zum Lebensmodell.
Dann entwickelte Wojcieszek seine Neigung zum „postdramatischen Kino“, hat nach A Perfect Afternoon eine Zeit lang ausschließlich Theater gemacht. „Ich war so frustriert von all den Kompromissen, den fehlenden Ausdrucksmöglichkeiten, den Finanzierungsengpässen und der Tatsache, dass ich nicht machen konnte, was ich eigentlich wollte“, blickt er zurück und begeistert sich für die Experimentierfreude, die er in seinen Theaterjahren kennen gelernt hat: „Ich bin eifersüchtig auf die Entwicklung des Theaters. Dort machen sie wunderbare Sachen, sie kümmern sich überhaupt nicht darum, ob das der literarischen Vorlage oder einer anderen geschriebenen Quelle entspricht.“
Sachzwänge, die der polnische Filmemacher mit einem kleinen Cast auszuhebeln versucht. Secrets (Sekret, 2012), sein bislang letzter Film, kommt mit einem Ensemble von drei Schauspielern aus. Womit sich Wojcieszek die Freiheit erarbeitete, sich ganz seinen Schauspielern, und somit der Konstruktion seiner Figuren widmen zu können.
Mit der assoziativen Tour de Force von Made in Poland hat Secrets nichts mehr gemein: statt körnigem Schwarzweiß blühen hier die Landschaften. Wälder und Wiesen, auf deren Schönheit freilich die unbewältigte Vergangenheit der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit lastet. Wojcieszek klagt den polnischen Antisemitismus und das stillschweigende Einverständnis an, über die damit verbundenen Gewalttaten nicht zu sprechen. Und zieht gleich einen Fallstrick für bigotte Verfechter einer geradlinigen political correctness: Irgendwo am Rande eines polnischen Dorfes kommen die jüdische Schauspielagentin Karolina, der schwule Travestie-Darsteller Ksawery und sein Onkel Jan zusammen. Den Fragen, die die junge Frau stellt, weichen beide Männer aus: Jan, weil er es sich in einem Haus bequem gemacht hat, das früher einem vom Mob ermordeten Juden gehörte, und Ksawery, heute selber Außenseiter in einer homophoben Gesellschaft, dessen einzige wirkliche Vertrauensperson sein Onkel Jan, der vermutliche Täter, ist.
Eine Konstellation, die Wunden aufreißt und sich, wie alle Regiearbeiten von Wojcieszek, gegen jedes Schwarz-Weiß-Denken sträubt. Zur Zeit bereitet er seinen neuen Film in Berlin vor und genießt es, sein Land vorübergehend nicht mehr von innen zu betrachten: „Ich verfolge die Nachrichten aus Polen aus der Distanz. Das ist sehr lehrreich, denn aus der Entfernung sieht man manchmal klarer. Du hast Kaczyn´ski erwähnt: Er ist ein geschickter, zynischer Politiker, der mit diesen Befindlichkeiten spielt. Wenn man das ganze Land von außen betrachtet, dann merkt man, dass dort jeder dieser Paranoia zum Opfer fällt. Wahrscheinlich hat mich das ein wenig frustriert, und meine Filme sind zorniger geworden. Ich hatte das Gefühl, die Umgebung wechseln zu müssen. Ich musste woanders hingehen, um von außen auf mein Land blicken zu können.“
„Tribute to Przemysław Wojcieszek“ findet in Kooperation mit dem Polnischen Institut Wien statt.
Crossing Europe Filmfestival Linz 2013
23.–28. April 2013