Der Begriff Kultur geht Hand in Hand mit der „Zivilisation“. Gegen letztere wird niemand etwas haben, der Begriff Zivilisation klingt etwas technisch, aber sinnvoll (und den Ruf nach Anarchie überspringen wir ebenso wie deren Abgrenzung zum Faustrecht). Bleiben wir aber bei Zivilisation versus Kultur, da scheint letztere doch ungleich schwerer zu fassen: Schon das Wort verweist auf den Kult und damit explizit auf religiöse Praktiken. Da ist es nicht mehr weit zu Werten und Moral, und die stellen wir ja traditionell gerne infrage.
Wir, quasi die FAQ-Gemeinde: Uns verstehe ich jetzt mal als urbane Individualistinnen und Individualisten, manche eher bio, andere primär netz-affin, ob schick oder shabby, indie oder dandy, vegan, Single oder familiär, hetero, homo, hedo, bobo … jeder für sich, aber alle streben danach, sich ihre offene Weltsicht nicht von althergebrachten Vorstellungen trüben zu lassen. Damit stehen wir, wie schon angedeutet, wieder in einer längeren Tradition: Jugend- und Popkultur definierten, ja, konstituierten sich in Opposition zur etablierten Kultur der Erwachsenen – egal, ob diese nun traditionell, elitär oder einfach der amerikanische Traum von Suburbia war. Diese Phase der Gegenkultur gilt in der akademischen Betrachtung von Pop mittlerweile als historisch. Aktuell befindet sich Pop in einer Phase der „Akademisierung und Musealisierung“ („Pop III“, dazu gab es vor gut einem Jahr ein Symposium an der Wiener Kunstakademie), nachdem die Pop-/Jugendkultur zuvor schon die meisten Bereiche der Gesellschaft durchdrungen hatte.
Erklären mit Gabalier
Die coole Distanz von Pop und das, wovon man einst auf Distanz ging, haben irgendwie zusammen gefunden – ein Paradoxon, das besonders bei uns Probleme schafft, wo Pop auch dazu diente, jene Kultur zu vermeiden, die von den Nazis kontaminiert schien. Noch 2012 kritisierte Sigrid Löffler die junge Autorin Vea Kaiser unter anderem dafür, dass diese mit „Blasmusik Pop“ einen Heimatroman geschrieben habe – dieses Genre wäre nach dem Dritten Reich quasi untragbar. Vea Kaiser darf dennoch als unverdächtig gelten, spannend wird es beim erfolgreichen Musikanten Andreas Gabalier (über den man tatsächlich viele aktuelle Strömungen in seinem Wirkungsfeld erklären kann, so wie anhand von Lady Gaga wesentliche Elemente des internationalen 2000er Pop). Gabalier punktet nicht nur mit der Fusion von traditionell-trachtigen und Pop-Elementen, er positioniert sich auch immer wieder mit betont konservativen Statements an der Grenze zum Reaktionären. Damit unterscheidet er sich nicht von vielen anderen Bierzelt-Musikarbeitern, aber da Gabalier mit seinem Auftreten tiefer in die Sphären des Pop vordringen konnte als andere, kann er sich als Rebell gegen den allzu toleranten Konsens präsentieren. Diese Strategie ähnelt durchaus den Anfängen „unserer“ (Rechts-)Populisten, die in der geordneten Welt der Sozialpartner reüssierten, indem sie plötzlich jeden Konsens infrage stellten, von dem zuvor alle, viele oder zumindest die meisten profitiert hatten. Offene Kritik und Buhrufe vonseiten der „Progressiven“ trifft auf die Zustimmung derer, denen das dann doch alles zu viel ist: Techno oder Swing tanzen, okay, aber Frauen mit Bart, große Töchter, gesunde Ernährung, Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel, Ausländer mit Smartphone – ja, was denn noch alles? Sogar das Autofahren, zentraler Ausdruck demokratischer Freiheit, wollen „sie“ einschränken. Grade erst hat man sich von den Pfaffen emanzipiert, und schon wieder will einem jemand was vorschreiben?! (Kurioserweise nimmt die katholische Kirche in ihrer aktuellen Entwicklung einen den reaktionären Rebellen entgegen gesetzten Kurs.)
Toleranz versus Leitkultur
So fragwürdig sie den hellen Geistern erscheinen (zu Recht!), populistische Positionen sollten immer ernst genommen werden: Denn sie greifen Themen auf, die das Kollektiv beschäftigen, die aber im etablierten Diskurs ignoriert oder unterbewertet werden. Würden die etablierten Eliten diese Themen offen und ernsthaft behandeln, sie nähmen den Populisten viel Wind aus den Segeln. Die tatsächliche und symbolische Gegenposition zu Gabalier ist naturgemäß Conchita Wurst. Auf der Themenebene verkörpert die feminine Bühnenfigur mit dem eleganten Vollbart die Forderung nach Toleranz, was ja auch vielfach so deklariert wurde. Steht der Populist Gabalier dann also für „unsere Kultur“, und ist diese das Gegenteil von Toleranz? Freilich, im Gegensatz zur demokratischen Politik muss die Popkultur nicht alle zufriedenstellen, sondern vielmehr für jeden etwas anbieten, insofern muss die Frage nicht beantwortet werden. Aber im Sinne des Populismus bildet Gabalier einen kollektiven Wunsch ab, der für die Frage nach „unserer Kultur“ hoch interessant ist: Die Tradition, das Vertraute, etwas, womit sich viele Menschen identifizieren, wird mit der Popkultur fusioniert. Auf der Bühne, in den Medien, auf symbolischer Ebene mag das ja gehen, aber was sollen wir im Alltag davon ableiten? Trachtenpflicht für Zuwanderer? Mundartkurse statt Deutsch?! Auch ich identifiziere mich mit unserer Tradition, Geschichte, Vergangenheit – mit Andreas Gabalier aber ebenso wenig wie mit Populisten, die ebenfalls die Tradition mit Popkultur verbinden, indem sie die traditionelle Ikonographie staatstragender Inszenierungen in YouTube-Filmchen mit ihren Inhalten parodieren (unglücklicherweise werden solche Persiflagen von manchen ernst genommen) …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe.