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Vertreibung ins Paradies

Text: Auer Brigitte | Fotos: Magdalena Blaszczuk

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Und diese Wahrheit tut weh. Vor allen Dingen, wenn man sie so schonungslos in Bilder gießt, wie Ulrich Seidl dies seit seinem Kurzfilmdebüt 1980 tut. „Sozialpornograf“ hat man ihn nach Einsvierzig, jenem ersten Film über einen kleinwüchsigen Mann und die Reaktionen seiner Umgebung, genannt. Das zweite Werk, Der Ball (1982), resultierte in seinem verfrühten Abgang von der Wiener Filmakademie (um deren Ansehen nicht weiter zu schaden) und nach der Kinopremiere von Good News – Von Kolporteuren, toten Hunden und anderen Wienern (1990) hatte man ihm gesagt, er werde nie wieder einen Film drehen und vonseiten des Fördergremiums die Produktionsgelder zurückverlangt. Bis sich im Jahr darauf mit dem Wiener Filmpreis und dem Prix des bibliothèques eine erste Welle der Anerkennung einstellte, die bis heute nicht abreißt. Ausgestattet mit dem Wissen, was man in der universitären Ausbildung von Berufen im Filmgeschäft besser machen könnte, bewarb sich Seidl übrigens dieses Jahr für eine Professur an der Wiener Filmakademie, zog diese jedoch wieder zurück, da das eigene Schaffen Vorrang habe.

„A maestro of discomfort“ hat ihn Dennis Lim in der New York Times treffend genannt und wahrlich fühlt man sich in keinem der Filme des 1952 geborenen und im niederösterreichischen Horn aufgewachsenen Regisseurs je wohl in seiner Haut. Als seine Aufgabe – beziehungsweise jene der Kunst – sieht Seidl es, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, sie auch mit Wahrheiten zu konfrontieren, von denen sie vielleicht nichts wissen will. Dass dabei häufig der Überbringer der schlechten Nachricht gescholten wird, ist nicht neu, hat ihn aber nie davon abgebracht, an seiner ästhetischen Vision festzuhalten oder sich gar einschüchtern zu lassen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man sich seinen Werdegang ansieht: Aufgewachsen in einer strengen, katholischen Familie, in der er sich in seiner Kindheit und Jugend nicht immer wohlgefühlt habe, galt ein künstlerischer Beruf nicht als anstrebenswerte Option. Seine künstlerische Entwicklung habe „lange nur im Kopf“ stattgefunden, bis er sich über Malerei, Fotografie und Kameraarbeit langsam zur Regie vortastete. Dann jedoch schien alles, was die Formensprache und das inhaltliche Universum – oder eher Panoptikum – eines Seidl-Films ausmacht, bereits angelegt. Wenn Karl Wallner, Protagonist aus Einsvierzig, zum Beispiel unbewegt in einem Kornfeld steht, das ihm bis zur Brust reicht, deutet das auf die streng symmetrische Cadrage der sogenannten Seidl-Tableaus hin, in denen eine oder mehrere Personen manchmal unerträglich lange unbewegt in die Kamera blicken. Das Gegenteil von Tableaux vivants.

Glaube

Auch Seidls Interesse an (und, wie er häufig betont, emotionale Nähe zu) Außenseiterfiguren ist offensichtlich: Aufgrund seiner Körpergröße außerhalb der gesellschaftlichen Norm stehend, konfrontiert Wallner, ausgestattet mit einem Mikrofon, Arbeitskollegen und Passanten. Gefragt, was sie denn „von so einem Zwerg“ wie ihm halte, entlockt er einer Dame: „Das ist ja menschlich, nicht? Weil einer ist groß, einer ist klein, nicht? Ich hab ja auch Gartenzwerge, die was ich gern hab, was ein mancher Mensch nicht will.“ Dass Seidl Wallner im Folgenden neben einen Gartenzwerg stellt, ist im Dienste visueller Zuspitzung nur konsequent.

Seidls absolutes Ziel war von Anfang an die Authentizität des Dargestellten. Die Vermengung dokumentarischer Settings und Herangehensweisen mit fiktiven beziehungsweise teilfiktiven Inhalten hat die Debatte um seine Arbeiten über weite Strecken bestimmt. Die Verortung im dokumentarischen Genre habe dabei zu Beginn, so Seidl, hauptsächlich der Finanzierung gedient. Sich der Tatsache bewusst, dass die Position des Beobachters von vornherein das Geschehen vor der Kamera beeinflusst, hat Seidl seine Figuren zu Darstellern ihrer selbst gemacht. Dieses Vorgehen prägt bis heute seine Arbeitsweise. Die Drehbücher, die er gemeinsam mit seiner Partnerin Veronika Franz verfasst, enthalten genaue Beschreibungen, nie aber Dialoge, und entstehen aus Beobachtungen, Erfahrungen oder Begegnungen. Sie folgen einer intensiven und extensiven Recherche: „Man schöpft aus der Realität und erfindet sie gleichzeitig neu.“ Beim (chronologischen) Drehen werden diese Bücher dann aber nicht durchexerziert, sondern bilden einen stabilen Rahmen, innerhalb dessen viel Raum für Zufälliges besteht. Das ist auch ein Grund dafür, dass am Schneidetisch nicht selten an die 80 Stunden gefilmtes Material landen, aus denen der Film noch einmal neu „geschrieben“ wird.

Liebe

Seidl dreht sowohl mit Laien als auch mit professionellen Schauspielern, die alle, neben der Fähigkeit, authentisch vor einer Kamera agieren und improvisieren zu können, willens sein müssen, ungeschönt körperlich und psychisch etwas von sich preiszugeben. Dies trifft auf geborene Selbstdarsteller wie René Rupnik, den Mathematiker, Experten für weibliche Reize, Nudisten und Messie aus Der Busenfreund (1997, mit dem es in Paradies: Glaube ein komödiantisches Wiedersehen gibt) oder Swingerclubbesitzer Victor „Wickerl“ Hennemann aus Hundstage (2001) ebenso zu, wie auf die Stammspielerin Seidls, Maria Hofstätter, die in den langen, intensiven Vorbereitungen für Produktionen immer wieder aufs Neue bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen. Für Import Export leistete Hofstätter über Monate Dienste auf einer Geriatrie-Station und die Arbeit an Paradies: Glaube begleitete sie gar sieben Jahre. Um die Unbedingtheit ihrer Figur, einer strenggläubigen Katholikin, nachfühlen zu können, sprach und betete sie mit Gläubigen, ging missionieren, bei Eis und Schnee auf eine einwöchige Fußwallfahrt nach Mariazell, nahm an Anti-Abtreibungsdemonstrationen teil, verbrachte eine Woche in einem Schweigekloster sowie eine weitere Woche ohne Nahrung allein im Wald.

Hofstätters Figur, Anna Maria, ist eine von drei Protagonistinnen in Paradies, die – bewusst oder unbewusst auf der Suche nach Liebe – auf Reisen gehen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zum rechten Glauben zurückzuführen und missioniert, ausgestattet mit einer 40 Zentimeter großen Wandermuttergottes, jene, die in Sünde oder Unwissen leben. In ihre Beziehung mit Jesus Christus, in der sie auch ihre unterdrückte Sexualität auszuleben versucht, dringt dann jedoch ihr Ehemann, ein ägyptischer Moslem (Nabil Saleh), der nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, nach Jahren der Abwesenheit ein und bringt das fragile Realitätskonstrukt ins Wanken. Die Geschichte sowie die Personenkonstellation gehen auf Seidls Recherchen zu Jesus, du weißt (2003) zurück und auch die visuelle Sprache ist in ihrer Strenge und den variierten Wiederholungen vergleichbar.

Hoffnung

Nach einem gänzlich anderen Paradies sehnt sich Anna Marias Schwester Teresa (Margarethe Tiesel) im ersten Teil der Trilogie, Liebe. An den Stränden Kenias sucht sie nach Romantik und sexueller Erfüllung bei den lokalen Beach Boys, jungen Afrikanern, die Souvenirs verkaufen und ihrerseits nach einer „Sugar Mama“ Ausschau halten, von deren finanzieller Zuwendung sie sich und ihre Familie ernähren. Der Tourismus als moderne Form des Kolonialismus, in dem die Nachgeborenen mit der Schuld der Vergangenheit als auch der Gegenwart konfrontiert sind. Teresas Tochter Melanie schließlich verliebt sich in Paradies: Hoffnung in einem Diätcamp in den 40 Jahre älteren Arzt des Camps.

Um die Sehnsucht nach Glück und Liebe wie auch um die Enttäuschung und Einsamkeit die damit einhergehen, um das, was Seidl wiederholt einen „Schrei nach Liebe“ genannt hat, drehen sich die meisten seiner Filme auf ungeschönte, schmerzhaft ehrliche Weise. Das mannigfaltige Scheitern in Hundstage, der grenzüberschreitende Versuch der Brautwerbung, um nach dem Tod der Frau mit der Situation der aufgebrauchten Tiefkühlnahrung umzugehen in Mit Verlust ist zu rechnen (1992), die Suche nach der perfekten Katalog-Braut in Die letzten Männer (1994) und vor allem die gänzliche Unmöglichkeit, in menschlichen Beziehungen Erfüllung zu finden in Tierische Liebe (1995) zeugen von der Grausamkeit der Normalität und der Banalität dieser Grausamkeit. In Ulrich Seidls Filmen starrt man immer wieder aufs Neue in einen Abgrund, der vehement und wahrhaftig auf das Publikum zurückstarrt.

PARADIES: Liebe. Kinostart: 30. November 2012

Mit Margarethe Tiesel, Peter Kazungu, Inge Maux, Dunja Sowinetz, Helen Brugat, Gabriel Mwarua, Josphat Hamisi, Carlos Mkutano

PARADIES: Glaube. Kinostart: 11. Jänner 2013

Mit Maria Hofstätter, Nabil Saleh, Natalija Baranova, René Rupnik

PARADIES: Hoffnung. Kinostart: 22. Februar 2013

Mit Melanie Lenz, Verena Lehbauer, Joseph Lorenz, Michael Thomas, Vivian Bartsch

Österreich/Deutschland/Frankreich 2012

Regie Ulrich Seidl Drehbuch Ulrich Seidl, Veronika Franz

Kamera Wolfgang Thaler, Ed Lachman Schnitt Christof Schertenleib Production Design Renate Martin, Andreas Donhauser

Kostüm Tanja Hausner

Verleih Stadtkino Film Vereih, 120Min/113Min/100Min

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