Unumgänglich ein Blickwechsel zu Beginn. Über das Feld der bildenden Kunst hinaus in den Bereich der Architektur. Dass sogar die heurige VIENNA ART WEEK diese sensationelle Ausstellung im Architekturzentrum Wien in ihr Programm aufgenommen hat, war naheliegend. Erstmals in dieser Form bietet das Projekt „Sowjetmoderne‘‘ eine Aufarbeitung fortschrittlicher, visionärer und experimenteller Architektur der poststalinistischen Ära in den Republiken der UdSSR außerhalb Russlands.
Auf einer Expedition von den baltischen Staaten aus über Weißrussland und dann von der Ukraine bis Kasachstan und Turkmenistan verfolgt die Ausstellung die These eines Pluralismus lokaler Interpretationen moderner kommunaler Architektur abseits der Stereotypen eines planwirtschaftlich fundierten technokratischen Funktionalismus.
Auch dass in der UdSSR der Informationsfluss über die Diskurse im Westen vorhanden war, zeigt sich in Kiew etwa anhand der Schalenarchitektur der Krematoriumshallen von Milezkyi, Melnytschenko und Rybatschuk, die an das berühmte Opernhaus Jorn Utzons in Sydney erinnern. Faszinierend und gewagt wirkt das Gebäude des Ministeriums für Straßenbau in Georgiens Hauptstadt Tiflis. An einem Abhang errichtet, liegen die einzelnen Elemente des unter der Leitung von Giorgi Tschachawa realisierten Bauwerks wie locker gestapelte Schachteln übereinander. Ähnlich luftig situiert ist der Speisesaal mit Rundumaussicht, der zu dem Erholungsheim der Schriftstellervereinigung auf der Sewan-Halbinsel in Armenien gehört.
Trotzdem schade, dass die größtenteils auf Schautafeln präsentierte Ausstellung selbst viel zu bürokratisch wirkt. Währenddessen eröffnen sich in dem großartigen Katalogbuch von Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair, Alexandra Wachter und Dietmar Steiner Welten und Geschichten durch persönliche Erzählungen oder Beschreibungen von Lebensgewohnheiten. Von den politischen Rahmenbedingungen ausgehend, bringt es Annäherungen an Lebenssituationen und topografische Besonderheiten.
Architektur kann aber auch abschrecken. Etwa jene des Kunsthauses Wien. Während die skurrile Grottenbahn als Touristenattraktion durchaus funktioniert, bekennen zahlreiche Protagonisten der Kunstszene Wiens, dass sie dort noch keine einzige Ausstellung besucht hätten. Aus Protest gegen das Ökokitsch-Haus des Herrn Hundertwasser. Dennoch sei der Tabubruch hiermit begangen und auf eine Fotografie-Ausstellung in der Innenwelt der Kulissenwelt verwiesen.
In „Foto-Automaten-Kunst‘‘ wird die Ästhetik der Fotografie in Streifenform und somit ein wenig berücksichtigter Teil der Medienkunst thematisiert, die schon die Surrealisten, ob des maschinellen Charakters der Bildproduktion faszinierte. Der historische Bogen reicht von der Zeitschrift „La Révolution Surréaliste‘‘ vom Dezember 1929 über die berühmten Grimassen-Fotos Arnulf Rainers und Andy Warhols 1963 entstandenen Porträts auf ähnlicher Grundlage, bis etwa zu Cindy Shermans Serie „Untitled Film Stills‘‘.
Dabei halfen die durch Unschärfe charakterisierten Automaten-Bilder, jene Aufnahmeart zu imitieren, die von frühen Starfotos her bekannt ist. Bemerkenswert die Kunst des Ian Wenzel, der den Passbildautomaten zum zentralen Medium seiner gesamten Arbeit gemacht hat.
Nach dem Besuch eines kleinen Kinos mit Filmbeispielen, in denen der Fotoautomat als Leitmotiv vorkommt, geht es aber schnell raus. Am besten gleich weg aus Wien. Nicht nach Berlin oder Frankfurt, sondern mit einem günstigen Bahn-Ticket nach Karlsruhe. Ein ganzes Wochenende. Hier bietet das weitflächige ZKM Kunst und Diskurs pur. Ein Paradies der stressfreien Auseinandersetzung.
Allein „Sound Art. Klang als Medium der Kunst‘‘ ist die Reise wert. Selbst Insider, die mit Klangkunst und Elektronik vertraut sind, erwartet hier Neues. Nicht bloß auf den Wegen durch Futurismus und Fluxus oder den Bereichen mit dem guten alten Plattenspieler als Instrument. Erstmals wird die frühe experimentelle Elektronik Szene Skandinaviens aufgearbeitet. Mit Werken von 90 Klangkünstlerinnen und -künstlern mit rund 30 Neuproduktionen geht es, kuratiert von Peter Weibel, direkt in den Klangkosmos der Kunst.
Von da aus nochmals in die Länder der ehemaligen Sowjetunion. „Ein Sechstel der Erde: Über die Beziehung des Bildes zur Welt‘‘. Die Auswahl der Video- und Filmarbeiten hier bezieht sich auf einen Ökologie-Begriff des Psychoanalytikers Felix Guattari, der von einer Synthese der Erfahrungen von Kunst und Welt ausgeht. Ein Sechstel der Erde (1926) ist übrigens Titel eines Films von Dziga Vertov. In den Anfangsjahren der Sowjetunion entwarf er eine utopische Vision des multikulturellen Potenzials der Vielvölkergesellschaft.
Auch Rasten ist im ZKM möglich. Gleich in der nächsten Großausstellung inmitten von Wohnzimmersituationen im Design der 1960er Jahre laufen auf Fernsehern historische Werke der Videokunst. „Vidéo Vintage 1963−1983‘‘. Vito Acconci, Sonia Andrade, Samuel Beckett, Joseph Beuys, Dara Birnbaum, Chris Burden, Esther Ferrer, Robert Filliou, General Idea, Sanja Ivecovic´, Allan Kaprow, Jean-Luc Godard oder Nam June Paik stehen auf dem Programm. Bei weitem sind das noch nicht alle Künstlerinnen und Künstler und schon gar nicht alle Projekte, die es hier im ZKM zu erkunden gibt. Was aber gibt es Spannenderes als die Erfahrung der Welt im Labor der zeitgenössischen Kunst?
Sowjetmoderne 1955–1991
Unbekannte Geschichten
Hg. v. Architekturzentrum Wien. ed. von Katharina Ritter, Ekaterina Shapiro-Obermair und Alexandra Wachter. Vorwort von Dietmar Steiner. 360 Seiten, 634 farbige und 384 sw Abbildungen
24.5 x 29 cm
Ausstellung
Architekturzentrum Wien
bis 25. Februar 2013
Foto-Automaten-Kunst
„Die Ästhetik hinter dem Vorhang: Von den Surrealisten bis Warhol und Rainer“
bis 13. Januar 2013
ZKM:
Sound Art. Klang als Medium der Kunst
bis 06. Januar 2013
Vidéo Vintage 1963−1983
Eine Auswahl von Gründungsvideos aus der Sammlung des Centre Pompidou Paris
bis 03. Februar 2013
Ein Sechstel der Erde
Über die Beziehung des Bildes zur Welt
bis 01. April 2013