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Wabi-Sabi

Text: Michael-Franz Woels | Fotos: Illustration: Franz Suess

Virtualisierung, Medialisierung, Eventisierung und Theatralisierung des Sozialen führen zu neuen Formen der Wissensproduktion und des Wissensaustausches. Auch und vor allem im ästhetischen Breich. Diese Transformationen führen zu einer neuen Macht von Bildern, Codes und Zeichen. Unser Verstand als Weltbild erzeugende Schablone ist so- mit jeden Tag starken Veränderungen unterworfen. Geformt von unterschiedlichsten visuellen Eindrücken, verändern wir auch unsere Seh- und Denkgewohnheiten. Im All- tag manifestiert sich die Bedeutung des Performativen unter anderem durch eine zunehmend hervorscheinende Körper- und Selbstinszenierung. Auch Textproduktion kann als ästhetische Praxis des Performa- tiven im Spannungsfeld von Sprache, Macht und Handeln verstanden werden.

Um als sogenannter Außenmensch (gaijin), der nicht in Japan geboren oder aufgewachsen ist, in die facettenreiche kulturelle Semantik dieses Landes einzutauchen bedarf es einiger Geduld. Auch bei noch so starker Fokussierung auf Teilaspekte wird man die extrakulturelle Perspektive nie ganz ablegen können. Ein Sich-Ergreifen-Lassen anstelle eines Be-Greifen-Wollens, wie sie die Zen-Philosophie von ihren Praktizierenden verlangt, scheint als Methode angebracht. Diese ethisch-ästhetische Sinn- und Unsinnlichkeit widersetzt sich der bedingungslosen Vorherrschaft rationaler Logik und normativer Vergeistigung und sucht dabei nach vollkommen unvollkommenen Ausdrucksformen. Spontanität und Andeutungen dieses Erkenntnisweges obsiegen rationaler Erklärungen. Die Fähigkeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit dem aktuellen Moment zuzuwenden ist eine Voraussetzung dafür, spontan Angemessenes zu tun und eine Schulung des Geistes zu Wachheit und Offenheit.

Die kulturelle Performanz der japanischen Tee-Kunst vermittelt ethisch-ästhetische Wertvorstellungen, schafft in ihrer Aus- führung Identität und räumliches Gewahrwerden und kann als Bühnen- oder Darstellungskunst gesehen werden. Die vier Grundziele dieser Bewusstseins- und Ausdrucksdisziplin sind die Besonnenheit (kin) bzw. Harmonie (wa), die Ehrfurcht und Ehrerbietung (kei), die Reinheit (sein) und die Stille (jaku). Alle diese Teilbereiche der Tee-Kunst erfassen den Tee-Weg (chadô) aber mitnichten in seiner Gesamtheit. Entscheidend ist vor allem, dass der Mensch als unmittelbar Performender teilnimmt, der Tee-Weg zu einer Kunstform des verfeinerten Handelns wird. Tritt man aus der inneren Sammlung in das spontan-schöpferische Handlungswirken ein, dann geht es nicht mehr um richtig oder falsch. Es geht um das Handeln selbst, es zählt die reine Seinserfahrung im Tun und Miterleben.

Tee-Kunst realisiert sich nur in der Ausübung akkurat durchgeführter Bewegungsabfolgen. Ist eine Tee-Zusammenkunft beendet, hat auch das streng durchchoreografierte Kunstwerk seinen Abschluss gefunden. Tee-Zusammenkünfte sind somit nicht konservierbar, sammel- oder austellbar. Dass die Tee-Kunst auch im Westen inzwischen zum eigentlichen Kunstbereich gezählt werden kann, verdankt sie der Erweiterung des traditionellen westlichen Kunstbegriffs, der auch Happenings, Events, Performances und Aktionen mit einschließt. In diesem neuen Begriffskontinuum wird man die Tee-Kunst als Aktionskunst verorten, obwohl der Charakter als Gesamtkunstwerk ihr eine umfassendere Dimension zuweist. Die Aktionen, um die es in der Tee-Kunst geht, definieren sich als künstlerischer Vollzug alltäglicher Handlungen: das Entfachen eines Holzkohlefeuers, das Herbeischaffen und Entfernen der notwendigen Utensilien, die rituellen Verbeugungen voreinander, die Zubereitung des Tees. Die Schlichtheit des Settings, die räumliche Eingrenzung, soll zu einer inneren Sammlung in Gemeinschaft führen.

Jede dieser Handlungen war zur Zeit der Entstehung der Tee-Kunst einfach und vertraut, wurde jedoch durch Regeln einerseits und die bewusste Ausführung andererseits verfeinert und damit der Sphäre des Alltags enthoben. Nur intensive Schulung, wie sie andere darstellende Künste wie Tanz und Schauspiel erfordern, führt zu einer Meisterung der Bewegungsabfolgen. Die Tee-Kunst unterscheidet nicht zwischen DarstellerInnen und ZuschauerInnen. Zwar ist es meist nur eine Person, die jeweils eine Handlung ausführt, doch wechseln die Rollen. Es geht um das gemeinsame Erbauen einer Zusammenkunft unter Mitwirkung aller TeilnehmerInnen. Jede einzelne Tee-Zusammenkunft erhält ihren künstlerischen Rang durch die (Über)Einstimmung der TeilnehmerInnen, ihr feinsinniges Zusammenwirken.

Ähnliche Bedingungen gelten für entsprechende moderne Aktionskünste. Der Tee- Kunst ging und geht es aber dabei weniger explizit um Kritik an gesellschaftlichen Zuständen, auch wenn solche kritischen Momente bei der Herausbildung der Tee-Kunst durchaus mitbestimmend waren. Das Ideal der wabi-Schlichtheit zur Zeit des japanischen Mittelalters wehrte sich gegen Luxus und Prachtentfaltung. Die Einführung eines niedrigen Eingangs zum Tee-Raum, durch den sowohl höhergestellte als auch rangniedrigere Personen gebückt hindurchgehen mussten kann zur damaligen Zeit als gesellschaftlich in hohem Maße provokativ gesehen werden, und die Tee-Kunst-Ideale von Harmonie, Ehrerbietung, Reinheit und Stille können in einer lärmigen Jetztzeit als geradezu gegenläufig-auflehnend gesehen werden.

Viele Tee-Meister waren als mekiki berühmt. Wörtlich übersetzt heißt der Terminus „wirksame Augen Habender“ oder „feine Augen Besitzender“ und bezieht sich auf das geschulte Auge eines Kenners. In der Tee-Kunst bedeutete mekiki jedoch neben profunder Kennerschaft auch die Fähigkeit, bisher nicht beachtete Formen, Gegenstände oder Materialien zu entdecken und in die Tee-Kunst zu integrieren, sei dies die raue Ästhetik von Lehmwänden oder die besondere Atmosphäre von kleinen Räumen. Damit die Tee-Kunst lebendig blieb, musste sie von jedem einzelnen Tee-Künstler individuell interpretiert und umgesetzt werden.

Eine große gestalterische Kraft übte dabei seit dem japanischen Mittelalter die Ästhetik des wabi aus. Die wabi-Ästhetik grenzt alltägliche, profane Dinge nicht aus, es ist grundsätzlich nichts zu gering in seinem Wert, um nicht zu einem Teil des Gesamtkunstwerkes des Tee-Weges zu werden. Es bedarf nur der feinen Augen eines mekiki, um einen Gegenstand oder eine Form mit ihrem spezifischen, künstlerischen Aspekt zu entdecken. So wie die wabi-Ästhetik in die Tee-Kunst und darüber hinaus in die gängigen Schönheitsvorstellungen des japanischen Kulturraumes hineinwirkt, so beeinflussen auch Konzeptkünstler des vorigen Jahrhunderts die moderne westliche Kunst insofern, als sie die Grenzen zwischen dem Profanen und dem Künstlerischen, zwischen dem Leben und der Kunst auflösten, um das Schöne aus einer radikal-subjektiven Wahrnehmungsfähigkeit heraus zu definieren.

Das Wort wabi wurde schon lange vor seiner Verwendung in der Tee-Kunst der zweiten Hälfte des japanischen Mittelalters in der klassischen japanischen Literatur als Zustand des Mangels, Verlustes oder Verlorenseins beschrieben. Dichter, die ein zurückgezogenes und bescheidenes Leben führten, schufen eine Poesie, die aus ihrer Armutserfahrung hervorging. Die erlebten Entbehrungen wurden in Empfindungen der Schönheit des Vergänglichen, Flüch- tigen, Ärmlichen und Einsamen transformiert. Wabi erschien diesen Einsiedler- Dichtern als ein ethisch-ästhetisches Ideal – ein Ausdruck feinsinniger menschlicher Existenz, die zugleich immer auch eine Überlebens-Kunstform war. Jeder Moment im Dasein eines Einsiedler-Poeten besaß seinen verfeinerten Wert im Prozess des Gesamkunstwerks Leben, wabi wurde zum prägenden Ideal. Der Prozess des Sich-Zurücknehmens führte zu einem Prozess schöpferischer Entfaltung, zu einer Spontanität aus der Sphäre des Nichtseins und Nichtstuns. Temporäre geistige Verfestigungen inmitten einer Welt steten Wandels verwirklichten und verkörperten eine Anspruchslosigkeit im Sinne des wabi-Prinzips.

Ebenfalls aus der Literatur stammt der Ausdruck sabi, der Einsamkeit und Alterung impliziert. Verstanden nicht nur als rein ästhetischer Begriff, sondern primär als existenzielle menschliche Komponente wird das Sein in seiner Einsamkeit, seinem Altern und Vergehen positiv erlebt und bejaht. In den nachfolgenden Jahrhunderten haben sich die Bedeutungen von wabi und sabi oft überschnitten. Eine scharfe begriffliche Trennung scheint nicht mehr angebracht. Wenn JapanerInnen heutzutage wabi sagen, meinen sie gleichzeitig sabi und umgekehrt. Wabi-sabi als ästhetisches Ideal erkennt, dass Schönheit ein dynamisches Ereignis ist, das sich zwischen einem selbst und etwas anderem, einem Gegenüber, abspielt. Schönheit kann spontan vorkommen, zu jedem Zeitpunkt, wenn die entsprechenden Umstände, der geeignete Kontext oder der passende Standpunkt gegeben sind. Schönheit ist somit ein veränderlicher Bewusstseinszustand, ein besonderer Augenblick der Poesie und Anmut.

Aus der Sicht von wabi-sabi ändert sich die jedem Gegenstand innewohnende Aussagekraft ähnlich der Beziehungen unter Menschen, wenn sich gewisse Umstände ändern oder von Buchstaben zueinander, die in bestimmter Reihenfolge Wörter und Sätze bilden und in jeweiligen Kontexten bestimmte Bedeutungen vermitteln. Genau mit diesen wahrnehmbaren, vergänglichen Spuren hat wabi-sabi mit seinen stofflich-sinnlichen Qualitäten wie Unregelmäßigkeit, Vertrautheit, Schlichtheit und Verschleierung in idealisiertester Form zu tun; mit diesen vagen Anzeichen an den performativen Grenzen zum Nichts und aus dem Nichts. Ende der kleinen Koren-Rip-Off-Performanz.

| FAQ 10 | | Text: Michael-Franz Woels | Fotos: Illustration: Franz Suess
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