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Wanderbühne

Text: Michael-Franz Woels | Fotos: brut Wien

Das Koproduktionshaus brut Wien bleibt auch heuer mobil. 14 Orte der Hauptstadt werden in der aktuellen Saison bespielt. Eines der Highlights: „Sodom Vienna“ von Denice Bourbon und Gin Müller.

Foto: Sarah Hauber

Das ambulante Dasein hat in absehbarer Zeit ein Ende: brut bekommt wieder ein eigenes Haus! In der alten Zentralbank-Zweigstelle St. Marx werden ab dem Jahr 2024 ein großer Bühnenraum, Proberäume, Büros, technische Nebenräume, Freiflächen und Gastronomie zur Verfügung stehen. In der Zwischenzeit bezieht brut als temporäre Hauptspielstätte 2021 eine ehemalige Fabrikshalle im letzten großen innerstädtischen Stadtentwicklungsgebiet, dem Nordwestbahnhof-Areal. Einstweilen ist „brut all over Vienna“ immer noch das angesagte Motto, mit dem ganz Wien bespielt wird. Das bedeutet einen Herbst voll mit kritischen und queeren Reflexionen zu aktuellen politischen Themen, zum Erbe des Roten Wien oder zur Ära Kreisky, künstlerische Grenzgänge der Körperlichkeit und des Tanzes. FAQ hat Denice Bourbon und Gin Müller, die Macher des Herbst-Highlights „Sodom Vienna“, auf der Praterwiese zu einem coronakonformen Freiluftgespräch getroffen.

sodom_vienna_1.pngDenice Bourbon © Sarah Hauber
sodom_vienna_2.pngGin Müller © Sarah Hauber

FAQ: Ihr provoziert aktuell mit Slogans wie: „Wählet Sodom Vienna! Die perverse Liebesrepublik“ oder „Make Vienna A Great Pleasure Hole“. Nicht nur in eurem aktuellen Projekt „Sodom Vienna“, mit der großen „Sodom Vienne Revue“ im November, verwendet ihr Humor und Unterhaltung als aktivistisches Werkzeug, als künstlerische Strategie, um auf politische Themen hinzuweisen.

Denice Bourbon: Wir verwenden Sprüche und Schlagwörter, die gegen uns in rechten, konservativen Boulevard-Medien verwendet werden: Perversität, Antifa, Genderwahn. Wir wollen ihnen damit die Möglichkeit nehmen, diese Wörter einzusetzen.

Gin Müller: Es ist eine Form der Überaffirmation.

D. Bourbon: Zur Zeit fällt mir auch auf, dass sich viele Menschen durch Late-Night-Shows ihre Informationen zu aktuellen Themen holen. In den 1920er Jahren ist die Kabarett-Szene, vor allem die jüdische Theaterszene, in Wien sehr stark gewachsen. Nach der Monarchie und dem 1. Weltkrieg hatten die Menschen weniger Angst vor Autoritäten und haben sich getraut, in Formaten wie diesen „nach oben zu treten“. Es wurde frecher und humoristischer auf der Bühne, Nacktheit wurde als subversives Element eingesetzt. Nicht zu vergessen, in dieser Zeit sind auch die queeren Salons entstanden. Viele denken bei den wilden Zwanziger Jahren vor allem an Berlin oder Paris, eher nicht an Wien, denn hier gab es keine eigene Szene. Aber die Protagonistinnen und Protagonisten kamen auf Tour nach Wien: Die Berliner Tänzerin Anita Berber sorgte mit ihrer Tanzproduktion „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ im ausverkauften Wiener Konzerthaus für Skandale. Die „Sodom Vienna Revue“ nimmt auf Ereignisse wie dieses Bezug.

G. Müller: In den 1920er Jahren entstanden das politische Kabarett, die Revue und das Varieté. Das Rote Wien war auch recht engagiert in emanzipatorischer Sexualpolitik. Anna Freud, die Tochter von Sigmund Freud, setzte sich sehr stark für Kinderpsychologie ein. Die Sozialdemokratie vertrat aufgeklärte Konzepte zum Marxismus, auch von radikaleren Psychoanalytikern wie Wilhelm Reich. In einer durch Freud sexualisierten Stadt gab es das Verlangen nach Therapie für alle und freie Sexualität. Auch die Frage der Körperpolitik war sehr präsent, nicht nur in der Badekultur.

D. Bourbon: Ein lustiges Detail zur Körperkultur oder zu den Badevergnügen: Den Vorreiter der „Speedo“-Badehose, ein kleines, tarzanartiges Tuch, nannte man Lobau-Fetzen.

G. Müller: In dieser Nummern-Revue mit einer internationalen Crew bin ich übrigens die einzige Person aus Wien. Weitere Performerinnen und Performer sind Veza Fernández, Hyo Lee, Denise Palmieri, Stefanie Sourial und Alex Franz Zehetbauer. Wir werden eher einen Blick von außen auf das Rote Wien der 1920er Jahre werfen.

Welche anderen Phänomene des Roten Wien werdet ihr in eurer Revue aufgreifen?

G. Müller: Wir werden den Gemeindebau verqueeren …

D. Bourbon: Wir machen den Gemeindebau wieder sexy …

G. Müller: … und auch Sportevents wie Massengymnastik, die es hier im Prater gab. Als am Ende der 1920er Jahre das Praterstadion gebaut wurde, fanden für Arbeiter Massenfestspiele statt. Die erste Arbeiter-Olympiade gegen Ende der 1920er Jahre hatte noch nicht dieses starke Konkurrenzdenken, das man häufig im Sport findet. Wichtig war vor allem die Stärkung des Gemeinschafts- und Solidaritätsgefühls. Die Praterstraße war auch stark geprägt von jüdischen Kabarett-Bühnen. Diese Bühnen, gemeinsam mit Film-Lichtspielen und andere Vergnügungsstätten, haben sich bis in den Prater hineingezogen.

D. Bourbon: Ein Detail, das ich durch die Recherche herausgefunden habe: Auf der Praterstraße gab es fünfzig jüdische Theater!

G. Müller: Es gab hier riesige Theater, nicht nur den Nestroyhof, den man jetzt noch kennt und der einmal eine Singspiel-Halle, eine Art Varieté war.

Welche sozialistischen Ideale und Utopien sind für euch immer noch relevant?

G. Müller: Wien war ja vor dem 1. Weltkrieg eine der größten Städte der Welt. Durch den Krieg und die Armut gab es da-nach viele Tote. Die Stadt versuchte dieses Wohnungselend mit Gemeindebauten zu lindern. Diese wurden auch in reichere Viertel gepflanzt, um einen gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen. Im internationalen Vergleich besitzt die Stadt Wien immer noch viele Wohnungen. „Wer Kindern Paläste baut, reißt Kerkermauern nieder“, das war ein Satz des sozialistischen Arztes Julius Tandler. Und es gab auch viele weibliche Protagonisten im Roten Wien.

D. Bourbon: Mir fällt da zum Beispiel die Architektin Margarete Schütte-Lihotzky und ihre Frankfurter Küche ein.

G. Müller: Österreich war eines der Länder, in denen Frauen auch schon sehr früh im Parlament vertreten waren. Das waren damals Errungenschaften der Linken. Die Positionen im Bereich Bildung und Sexualaufklärung waren damals in psychoanalytischen Zirkeln progressiver als heute. Doch all das wurde durch die Nationalsozialisten wieder komplett zunichtegemacht. Auch Phänomene wie die Siedlerbewegung, die Utopie des solidarischen „Neuen Menschen“ wurden verdrängt …

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 58

Denice Bourbon und Gin Müller: Sodom Vienna

19 bis 25. November, 20:00 Uhr

www.brut-wien.at

| FAQ 58 | | Text: Michael-Franz Woels | Fotos: brut Wien
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