Eigentlich sollte man glauben, dass der Musikmarkt schnell auf äußere Umstände reagieren und Befindlichkeiten, Ängste und alle anderen Emotionen mit neuen Werken verarbeiten kann. Es gab da und dort ein paar Heimvideos mit dem Lob des Zuhausebleibens, und Kabarettisten wie Thomas Stipsits griffen zur Gitarre, aber sonst gab es vor allem Ruhe. Wenn man die Listen der Neuerscheinungen der letzten Wochen und Monate durchgeht, dann fällt einem dazu nur ein, dass sich die Maschine wie gewohnt weiterdreht und Business as usual angesagt ist. Die Konzerne schicken eine R’n’B Hoffnung nach der anderen ins Rennen, die nach dem Motto „Sex Sells“ die
Streamingdienste zum Glühen bringen sollen. Aber wo zum Teufel soll getanzt werden? Im Gatschhaufen vor der Haustür bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und mit ein paar heißen Maroni in der Hand? Oder doch im Lockdownwohnzimmer mit entsprechender Rücksicht auf den Raumschmuck, das Computernetzkabel und die Nachbarn?
Der Buchmarkt reagierte auf die Pandemie geradezu atemberaubend schnell. Bereits im Frühjahr waren die Buchhandlungen gut-sortiert mit zusammengefassten Blogs und Erfahrungsberichten aus aller Herren Länder, und kundige Menschenkenner nahmen sich des Problems des vollkommenen Schließens des Kulturbetriebes an. Das Schweigen der Musik dauerte lange, hat aber jetzt ein Ende, denn AnnenMayKantereit veröffentlichten ohne jede Vorankündigung mit „12“ ihr drittes Album – und es ist das erste wirklich zu Herzen gehende Statement zu Thema Leben in der Isolation. Wie auch schon Elvis Costello und viele große Songwriter gesagt haben, geht es im Leben wie in der Kunst nicht um Schwarz oder Weiß, sondern um die unzähligen Schattierungen dazwischen. Genau diese loten die drei Kölner auf meisterhafte Weise aus. Natürlich hilft hier die markante Reibeisenstimme von Henning May, aber es geht darum, wie diese 12 Songs eine Achterbahnfahrt der Gefühle transportieren. Obwohl das Album „im Schock“ entstanden ist, sind der Band drei Teile wesentlich: der düstere Beginn, das Aufatmen danach und die süß-bittere Wahrheit zum Schluss. Dass hier bei einer Band, die im Sommer bei den großen Festivals als Headliner gebucht war und einen fixen Platz in der Generation der Anfangs- und Endzwanziger hat, bei so einem Vorhaben auch zukünftige Hits wie „Spätsommerregen“ oder „Aufgeregt“ abfallen, ist schon fast unheimlich.
Ein Satz, den die Band auf ihrer Webseite veröffentlicht hat, ist einfach zu schön und zu aussagekräftig, um ihn hier nicht zu wiederholen: „Die Reihenfolge der Lieder hat für uns Bedeutung, und wer so großzügig ist, sich das Album auch in dieser Reihenfolge anzuhören, hat einen gepolsterten Sitzplatz in der Mehrzweckhalle unserer Herzen.“
AnnenMayKantereit: „12“
(Irrsinn/Universaal)