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Wenn man ein Telefon als Hut auf dem Kopf trägt

Text: Philipp L'Heritier | Fotos: Lauren Dukoff
Lauren Dukoff © Universal Music Austria

Nun gut, schön langsam wird sie müde, die Diskussion zum Thema „Pop“. Also, die POP! (in Großbuchstaben)-Findung von alles und jedem. Meine Hose, meine Partei, mein Vater – sind Pop, allesamt, ist diese Tatsache eigentlich schon bekannt? Kaum ist man den postmodern fragmentierten Nuller Jahren entronnen, in denen die lange gehegten Wünsche von der Versöhnung von allem mit jedem, von der Vermählung vom Besten aller Welten, endlich, endlich Wahrheit geworden sind, sieht man sich schon mit dem eigenen Hoffen nach dem Backlash konfrontiert. Er muss kommen. Die Nuller Jahre: schrille Zitat-Huberei, schlau-smarte Verweis-Collagierung, das zum persönlichen Recycling nahezu uneingeschränkte (wenn auch nicht immer freiwillige) Offenlegen der musikalischen Archive, alles kunterbunt und wunderbar. Das Jahrzehnt, in dem es irgendwann sehr bald schon zum nötigen guten Ton gehörte, in HipHop und R’n’B nicht weniger als die Zukunft der Musik zu vernehmen, die verstolperten Beats, das clevere Synkopen-Ballett von Timbaland und den Neptunes, das neue Album von Destiny’s Child als avancierter und komplexer als die aktuellsten Störgeräusche des Aphex Twin zu begreifen. Die Übereinkunft von Elektronik und Gitarre, von Club und Rock, von Song und Track, ja, ja, man hat davon gehört.

Während so in einem so genannten, immer vager werdenden „Underground“ relativ rasch nach dem erfolgreichen Aufflackern der Gitarren-Renaissance im Schlepptau der New Yorker Second-Hand-Fuck-Ups The Strokes in herkömmlich gestricktem Indierock ein neues Feindbild – weil eben in seiner Vorhersehbarkeit genauso biederer Mainstream – ausgemacht und im Gegenzug dazu in ausgefuchst und elektronisch State-of-the-art hochproduziertem Charts-Pop eine neue lässige Gegenkultur formuliert werden konnte, fanden gleichzeitig immer mehr Hochglanz-Stars aus dem einst so verschmähten Middle-of-the-Road-Musik-Markt Einzug ins Feuilleton, in Fanzines und Magazine, die sonst eher Noise Rock, Punk, eben Indie oder Schmirgelpapier-Elektronik vorbehalten gewesen waren. Mit zunehmender allgemeiner Verfügbarkeit der Musik konnte es nicht mehr um die bloß Abbildung dessen gehen, „wie die Musik denn so klingt“, sondern um (möglicherweise soziologische) Beleuchtung von „Figuren“, um „Phänomene“, um die Verortung der hyperperfekt funktionierenden und nicht selten ebenso perfekt versagenden Mensch-Maschinen Britney, Christina und Robbie im sich im Zusammenbruch befindlichen good ol’System Popmusik: „Justin Timberlake? Na ja, die Musik, nun ja. Aber die ,Figur als solche! Das System, der Betrieb!“

Mittlerweile ist der „eklektische“ Pop-Entwurf etabliert, gesättigt und übererfüllt. Wenn alles Pop ist, dann ist bekanntlich gar nichts mehr Pop. Jetzt, in den herandüsternden Zehner Jahren müssen wir wieder zurück zum Beton. Jetzt ist Schluss mit Glitz, Glamour, Disco und Luftikus-Dasein, allerorten wird neues Bürgertum und Besinnung auf konservative Werte ausgerufen. Mit prunkschwerer Armbanduhr ums Gelenk und gusseisernem Füllhalter aus dem traditionsbehafteten Manufactum-Katalog (aktuell im Angebot: „einfach Schön: Sperrholzcontainer, klein, 172 Euro“) in der Hand werden die entscheidenden Fragen des Lebens zu Büttenpapier gebracht, im Hintergrund läuft die Leidensmusik eines vergrämten Gitarrenboys, danach die neueste Altherren-Phantasie von Grinderman.

Nun muss man nicht mit allzu übermächtigen prophetischen Fähigkeiten gewappnet sein, um zu erkennen, dass sich im Sektor „Musik“ in näherer Zukunft – und auch vermutlich nie mehr wieder – so etwas wie ein übermächtiger Leit-Trend etablieren wird: Splittergruppen um Splittergruppen allerorts, Mikro-Genres und Mini-Revivals, „Szenen“, die sich einzig aus fünf Typen aus einer Vorstadt von Brighton zusammensetzen (März 2011 bis Mai 2011). Die oft bemühte Theorie vom „Long Tail“ – immer kleiner werdende Stückzahlen von immer mehr und nischenhafter werdenden Nischenprodukten – ist bekanntlich in allerhöchstem Maße nicht zuletzt für Musik gültig. So werden künftig auch Produkte, deren Zielgruppe genau eine Person umfasst, ihren Empfänger erreichen. Vor diesen Zusammenhängen, vor einem Szenario, in dem Musik einerseits für Jugendkulturen immer geringere Bedeutung hinsichtlich der Errichtung ihrer individuellen Tribes hat, andererseits aber nur mehr wenige bis gar keine Popstars mit hegemonialer Strahlkraft entstehen oder auch gemacht werden werden, ist genau das alles, was seit gut zweieinhalb Jahren überall – überall, so auch hier – (mit¬unter etwas gar zu weihevoll und Weltformel-defnierend) postuliert wird, wahr: Lady Gaga ist der größte Popstar – zumal jener, der die Zuschreibung „Popstar“ auch in all seinen Facetten „verdient“ – der Gegenwart. Auch der letzte? Ein letztes Aufbäumen der „Plattenindustrie“ (man sollte wirklich einmal versuchen, das Wort ohne Häme auszusprechen)?

Sehr, sehr viele Menschen sind im kompletten Wortsinne Fans von Lady Gaga, sehr, sehr vielen Menschen ist Lady Gaga komplett egal – kein Nachteil, im Gegenteil, bei aller Maskerade kaum Reibef äche, selbst wenn Gaga im Kleid aus echtem Rindf eisch antanzt, ist der Skandal vergleichsweise klein; wenn man ein Telefon als Hut auf dem Kopf trägt, dann gehört das zum abgenickten Tagesgeschäft – die Gleichgültigkeit, die Beliebigkeit: eine von Lady Gagas Stärken. Lady Gaga bringt uns allen etwas. Auch die Allerletzten haben eine Veranstaltung wie die MTV Video Awards, bei der Lady Gaga gerade eben rekordträchtige acht Trophäen überreicht bekommen hat, mittlerweile als mal mehr, mal weniger nett anzuschauende Selbstvergewisserungsshow – dieses Jahr wieder mit durchaus unterhaltsamer Verve – begriffen. Lady Gaga ist dabei die höchste Materialisierung und ultimative Überhöhung dessen, was „Pop“ irgendwann einmal bedeuten wollte. Einmal noch wollen wir die außerirdische Überlebensgröße eines wahrhaftigen Stars innerhalb dieses Zirkusbrands erleben dürfen, noch einmal von einem schillernden Spektakel in die Zukunft hinübergerettet werden – normal, das sind wir selber. Lady Gaga ist ein in allen Farben funkelnder Zeichen-Dschungel, gleichzeitig ist sie ein leeres Gefäß, Projektionsfläche für alles und nichts, eine bloße Behauptung. „Is Your Punch Line Just a Joke?“ lautet eine besonders schöne Zeile aus einem ihrem besten Stücke, dem Freddy-Mercury-Gedächtis-Song „Speech less“.

Irgendwann Mitte bis Ende 2009 schien sich eine Veränderung im Wesen und in der Wahrnehmung von Lady Gaga – laut eigenen Angaben nennen selbst engste Vertraute die 1986 als Stefani Joanne Angelina Germanotta im Bundesstaat New York geborene Künstlerin schlicht „Gaga“ – abzuzeichnen: Bis dahin war Gaga schon mit ihrem programmatisch „Fame“ betitelten Debütalbum immens erfolgreich gewesen, sie selbst aber schien eher als von hölzerner Hand geführte Kunstfigur denn als eigenständige Künstlerin zu agieren – ein Leichtes auch in der Hülle „Lady Gaga“ eine leidlich anstrengende Person mit zuviel Schminke und hohem Nerv-Potenzial zu sehen, die gerne von scheinbarem Halbwissen beflügelt Andy Warhol und seine Factory in Interviews integrierte und etwas zu bemüht die Kunstbegriffe durcheinanderwirbelte. Spätestens aber mit dem Stück „Bad Romance“ – dem vermutlich, wie eben auch durch MTV bescheinigt, besten Pop-Video des Jahres 2009 – und dem dazugehörigen zweiten Album „The Fame Monster“ erleuchtete Eigenleben in der Formenwandlerin. Eine Frau, die nicht bloß über die Schmerzgrenze hinaus abgefahrene Outfits trägt, wie das im Pop seit Cher, Madonna oder Christina Aguilera eben so Brauch ist, sondern: Installationen. Gestänge, Gewebe, nie gesehene Konstruktionen. Und das nicht nur in mit immensem Brimborium und Zinnober inszenierten Performances, sondern in Talkshows und Interviews, quasi bei jedem öffentlichem Auftritt. In Kostümen, die als nichts anderes gesehen werden können als das, was sie sind, als Kostüme und Masken, verdeutlicht Lady Gaga noch dem letzten auf altehrwürdige „Echtheit“ pochenden Authentizitäts-Fanatiker, dass es sich bei Pop – im besten Falle – um Kunst und etwas Gemachtes und Ausgedachtes handelt, betont dabei aber gleichzeitig immer wieder, „dass sie eben wirklich so sei“. Lady Gaga reißt die vierte Wand nicht nieder, sie lässt sie nach eigenen Bedingungen dann und wann biegsam und durchlässig werden.

In musikalischer Hinsicht arbeitet Lady Gaga innerhalb eines eng gesteckten Rahmens – Achtziger-Synthiepop, Madonna, Michael Jackson, Glam, Queen, David Bowie – und folgt dem Prinzip der Einfachheit und der These, dass zu lange an etwas zu arbeiten, nie gut sein kann. Die zu großen Teilen mit ihrem Dauerpartner RedOne – oft betont schlicht – produzierten Tracks, die fast durchgehend den Geist der beiden ersten Madonna-Alben „Madonna“ und „Like A Virgin“ evozieren, erfüllen stets ihren Zweck. Im Gegensatz zu Madonna, nach deren Vorbild sie sich offensichtlich modelliert, agiert sie nicht von einer – nicht einmal einer vorgetäuschten – relativen Nullstelle aus und „entwickelt“ sich nach und nach zum Star, sondern formuliert schon auf ihrem ersten Album explizit, dass hier die prachtvolle Geburt eines Instant Megastars beobachtet werden kann. Ein gebautes Produkt, das sich selbst und seine Quellcodes offenlegt. Lady Gaga bleibt eine Oberfläche für alle: Demjenigen, dem das sauber gemalte Stilleben einer Obstschale mit Äpfeln und Birnen mehr Erbauung spendet als ein in Formaldehyd eingelegter Tigerhai, hält sie durchaus herausfordernd den drögen Begriff des „Handwerks“ – oder eben „Authentizität“ – entgegen, sie „kann“ etwas, wie es oft so unschön heißt, und wie das alternde Gitarrenlehrer und Rock-Buchhalter gerne einfordern. Lady Gaga ist früh und ausgiebig Musikunterricht widerfahren, sie hat sich ihre Sporen in mief gen Clubs erspielt, schreibt selbst ihre Songs (mit) und weiß auch ohne Auto-Tune zu singen – sie beherrscht also ihr Arbeitsmaterial.

Und so verwaschen die Ebenen bei Lady Gaga zwischen Figur und „Mensch“, zwischen Privat und Brotverdienen, und wenn ihr im intellektuell gemeinten Name-Dropping bisweilen die Ideen und Konzepte durcheinandergeraten, darf man glücklicherweise wieder einmal erleben, dass aus der Imperfektion, aus dem Brüchigwerden der heiligen Hülle bisweilen die höchsten Sympathie-Werte entstehen können. Alleine die Musik-Videos von Lady Gaga, die in Überlänge und mit Codes maßlos überfrachtet daherkommen, sind vielschichtige Dioramen aus dem echt erträumten Leben einer Musikerin, die sich selbst als Kunstfigur verstanden hat. Videos, geradeso als müsse man mit dem Brecheisen die guten alten Zeiten reanimieren, damals when MTV still mattered. Kill-Bill-Verweise im gemeinsam mit Beyoncé eingesungenen „Telephone“, eindeutige Madonna-Hommage und vage Nazi-Symbolik in „Alejandro“: Prächtige, opulent ausstaffierte Videos – Videos, die alles zeigen und nichts bedeuten wollen.

Bei all den Ambiguitäten und all der Eindimensionalität, bei all dem großen Erfolg, dem aufblitzenden Quatsch, all den Liedern, den guten und den doofen, der Plastik-Aura und dem mit den Fingerkuppen spürbarem Holzschnittrelief ist dabei weder Lady Gaga – die Idee, das Konzept, das System, der Beraterstab dahinter – noch die Person Stefani Joanne Angelina Germanotta selbst in besonderem Maße besonders, überragend oder großartig. Vielmehr handelt es sich um das einigermaßen – clever gesteuerte – glückliche Zusammenfallen – oder auch das feinsinnige Zusammenreimen, und es ist halt aufgegangen – so ziemlich aller Faktoren. Um das Begriffenhaben, wie die Sache mit dem Pop vielleicht doch noch ein allerletztes Mal als weltbewegendes Ungetüm funktionieren kann, mitsamt dem Auffahren aller verfügbaren Fanfaren, Pauken und Posaunen. Einer wie der fraglos über die Maßen talentierte Justin Timberlake hat nix begriffen, außer den Tugenden, dass man gut aussehen soll, akkurat tanzen und schön singen – und ab und zu vielleicht „ironisch“ dreinschauen. Lady Gaga löst das Modell des vergangenen Jahrzehnts, das da „Britney Spears“ und „Casting Show“ hieß, als lebensfrohere, mögliche Star-Blaupause ab. Britney Spears weiß nur, dass Popstar-Sein harte Arbeit, Tretmühle, Disziplin und Unterwerfung bedeutet. Von diesem Nektar hat auch Lady Gaga mit hoher Wahrscheinlichkeit schon schmecken dürfen, dennoch scheinen bei ihr andere Kategorien werkbestimmend zu sein: der Wunsch zur Kunst, die Selbstbestimmung, nicht zuletzt die Idee.

Vor Kurzem meinte Lady Gaga in einem Interview, eines ihrer liebsten Zitate wäre „Good Artists Borrow, Great Artists Steal“ von Oscar Wilde, nur um dann aufgeklärt zu werden, dass es im Original „Talent Borrows, Genius Steals“ heißen müsse. Lady Gaga darauf: „Oh, ich fände es anmaßend, mich selbst als Genie zu bezeichnen.“ Lady Gaga, deren vermutlich welterschütterndes drittes Album, „Born This Way“ (einmal mehr die olle Authentizitäts-Kamelle), Ende dieses Jahres erscheinen wird, ist die Königin der Verwischungen und Ungenauigkeiten, sie zeigt dem Zuschauerraum, dass Pop Vortäuschen und Sich-Bunt-Anmalen bedeutet und stellt sich im selben Wimpernschlag als vollkommen echt dar. Für Lady Gaga ist ein Urinal von Duchamp ein geiles Kunstobjekt – aber eben auch ein Urinal. Man kann sich nie sicher sein, sie selbst weiß das nicht so ganz genau, wir Gott sei Dank schon gar nicht.

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