Der junge Antoine Doinel beschließt, die Schule zu schwänzen, und bummelt mit einem Freund durch die Straßen von Paris. An einer Ecke sieht er auf einmal seine Mutter, wie sie einen fremden Mann küsst. Er wendet sich ab, geht ins Kino. Als ihn am folgenden Tag der Lehrer auf dem Schulhof fragt, warum er gefehlt habe, entgegnet er: „Es ist wegen meiner Mutter.“ – „Wieso?“ – „Sie ist tot.“ So beginnt der Abstieg des Jungen. Vorerst.
Das Debüt: „Les quatre cents coups“
Truffauts Erstling Les quatre cents coups (1959) erzählt die Biografie seines filmischen Doubles Antoine Doinel mit Jean-Pierre Léaud als 13-Jährigen, den mangelnde familiäre Liebe zur Besserungsanstalt verurteilt. Der Debütfilm der Nouvelle Vague folgt den Jugendlichen, ihren spontanen improvisierten Dialogen durch den Alltag. Gegen Ende, vor der Einlieferung in die Anstalt, sitzt Antoine wie ein Delinquent beim Verhör einer psychologischen Gutachterin im Off gegenüber. Ein Brustbild, frontal, in Cinemascope; offen entgegnet der Junge allen Fragen: warum er seine Großmutter bestohlen habe, seine Mutter nicht liebe, was er von seinem Vater halte („Er war immer nett, aber er ist feige, weil er weiß, dass Mutter ihn betrügt …“) oder wie es mit den Mädchen sei … Zwischendurch unterstreichen Überblendungen desselben Bildausschnitts die Dauer dieser dokumentarhaft erscheinenden Verhörsequenz, die mit einer Überblendung auf das Tor zur Anstalt endet.
Eine besondere Erzählweise des jungen Truffaut prägt sich hier aus: der Einsatz von Überblendungen, Kamerabewegungen, in einen Bewegungsfluss eingesetzten Standbildern, Ellipsen, Irisblenden. Manche dieser antiquiert scheinenden Stilmittel, die Akzente setzen, stellen einen bewussten Rückgriff auf vergangene Filmepochen dar, deren Techniken Truffaut in die moderne Filmsprache übersetzt, so dass spürbar wird, wie alle kinematografischen Stadien immer gleichzeitig anwesend sind, ihre filmischen Mittel, potenziell wie aktuell, zur Wahl stehen.
Ein Glückskind der Nouvelle Vague
Truffauts Debütfilm (nach gerade einmal drei Kurzfilmen) schlug als enormer Erfolg der Nouvelle-Vague-Bewegung und ihres ästhetischen Autorenfilm-Konzepts in die Filmgeschichte ein: 1959 in Cannes erhielt Les quatre cents coups den großen Preis für die Beste Regie, war in der Folge sogar kommerziell erfolgreich. Und damit nicht genug: Hatte man Truffaut im Jahr zuvor, damals bereits ein namhafter Filmkritiker, die Presse-Akkreditierung wegen seiner respektlosen Berichterstattung verweigert, musste man ihn im Jahr darauf als Triumphator der Regie anerkennen, neben sich seinen 15-jährigen Star, die Entdeckung Jean-Pierre Léaud.
Jean-Luc Godard verwies auf die Qualitäten des Truffaut-Films, indem er den Namen seines Cinéasten-Kollegen und damaligen Freundes aus dem Umfeld der „Cahiers du Cinéma“ und der Cinémathèque Française durchbuchstabierte (noch gab es jene durchaus schwerwiegenden wechselseitigen Animositäten nicht, die Truffauts Briefwechsel und vielen Interview-Äußerungen seit Anfang der 1970er zu entnehmen sind): „Franchise Rapidité Art Nouveauté Cinématographe Originalité Impertinence Sérieux Tragique Rafraîchissement Ubu Roi Fantastique Férocité Amitié Universalité Tendresse“ (Offenheit, Schnelligkeit, Kunst, Neuheit, Kino, Originalität, Unverschämtheit, Ernsthaftigkeit, Tragik, Frische, Ubu Roi, Ungewöhnlichkeit, Wildheit, Freundschaft, Universalität, Zärtlichkeit). Mit Godard, Jean Eustache und anderen Regisseuren der Nouvelle Vague trug Truffaut einen Protest der Filmleute, der sich seit Anfang 1968 gegen die Entlassung des langjährigen Leiters der Cinémathèque, Henri Langlois, richtete, zur Zeit des legendären Pariser Mai 68 weiter nach Cannes auf das Filmfestival und erzwang aus Solidarität mit den streikenden Arbeitern in ganz Frankreich den Abbruch der Veranstaltung. Währenddessen drehte er mit Baisers volés / Geraubte Küsse (1968) einen Film vordergründig bar jeder Politik.
Antoine Doinel – Jugend und Adoleszenz
Mit der Geschichte Antoine Doinels reflektiert Truffaut seine eigene Kindheit. „[D]as einzig wirklich Revolutionäre“ seines Erstlings habe, laut Truffaut im Rückblick, darin gelegen, dass sein Film den Erwachsenen nicht den gleichen Raum gibt wie den Kindern, weil sie zur Welt der Kindheit keinen Zugang haben; allein Jean Vigos Film Zéro de conduite (1933), aus dem Truffaut auch zitiert, zeigt sich in seiner liebevollen Haltung gegenüber den Kindern Truffauts Film verwandt. Die Wohnverhältnisse in Les quatre cents coups, die Behandlung bei der Polizei und die Befragung durch eine Psychologin tragen ausgeprägt dokumentarische Züge; dazu kommen die improvisierten Dialoge zwischen den Schulfreunden. Das Cinemascope-Format schmälert dabei keineswegs den Realismus; zudem prägt es die Schlusssequenz besonders aus, in der Antoine aus der Erziehungsanstalt ans Meer flieht, trotzig und selbstbewusst, die Freiheit vor Augen und vielleicht schon seine cineastische Zukunft.
Mit den Filmen Antoine et Colette (1962), Baisers volés (Geraubte Küsse, 1968), Domicile conjugale (Tisch und Bett, 1970) und L’amour en fuite (Liebe auf der Flucht, 1979), die allesamt zum sogenannten Doinel-Zyklus zählen, griff Truffaut die Biographie seines filmischen Doubles, Antoine Doinel, wieder auf und setzte sie fort. Die innere Struktur des Doinel-Zyklus stamme von Honoré de Balzac ab, „La comédie humaine“, von jenem Klassiker, dem Antoine bereits als Schüler einen Altar errichtet, der Aufbau von Pointen habe sich an Chaplin oder Leo McCareys Ehekomödien orientiert. Am Schluss von L’amour en fuite ist Antoines Kindheit, deren Erinnerungen in Schwarzweiß zitiert sind, zu Ende, die Geschichte eines Mannes, der die Frauen liebt, das Kino und die Bücher; mit der Buchhändlerin Sabine kann er sich in ein Glück jenseits der Leinwand zurückziehen. Sein Regisseur hatte nur noch fünf Jahre zu leben.
Meisterwerke der Leichtigkeit
Dem Glückskind der Nouvelle Vague schien alles mit jener Leichtigkeit zu gelingen, die seine Filme vermitteln. Tirez sur le pianiste (Schießen Sie auf den Pianisten, 1960), Truffauts früher Autorenfilm, „ein Dokumentarfilm über die Schüchternheit“, schrieb er in der Vorbereitung seinem Hauptdarsteller Charles Aznavour, auch eine Hommage an die Poesie der „Schwarze Serie“, war kommerziell allerdings schon ein Flop („Zweite Filme, heißt es, entscheiden die Karriere eines Regisseurs. Truffaut entschloss sich, das zeigen seine Filme danach, nie wieder so etwas zu machen. Es ist sein originellster Film. Das B-Picture machte ihn zum richtigen Autor“ – Frieda Grafe, Filmtips, SZ, 27.8.1979). Die Close-ups vom Gesicht Aznavours, durch Doppelbelichtungen, durch die Reflektion zerbrochener Spiegel geben durchweg den Ausdruck von Schwankungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart wieder.
Die folgende Dekade bis zum Tiefpunkt seiner Popularität, dem völlig zu Unrecht ignorierten Film Les deux anglaises et le continent (Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent (1971), gestaltete sich für Truffaut anstrengend, ein Hangeln von Projekt zu Projekt, auch wenn die daraus entstandenen Filme heute so mühelos erscheinen mögen, als eine Folge von Meisterwerken der Leichtigkeit, einer besonderen Leichtigkeit, erzählerische Gepflogenheiten zu durchbrechen: „Bei Jules et Jim (1962) war die Idee: Wir zeigen eine Frau zwischen zwei Männern, und wir werden verhindern, daß der Zuschauer einen der beiden netter findet als den anderen.“ (Truffaut, 1981) Gerade die Verfilmung der Romane von Henri-Pierre-Roché („Les deux anglaises et le continent“ und „Jules et Jim“) zeugt von Truffauts Bindung des Cineastischen an die Literatur. Auf die Frage, was er bei „Jules und Jim“ lieber möge, erklärte er unumwunden: „Ich persönlich ziehe das Buch vor. Es ist reicher.“
Unter der süßen Haut
La peau douce (Die süße Haut, 1964), laut Truffaut sein Film mit den meisten Schnitten, ist eine Ehebruchgeschichte: ein verheirateter Literaturkritiker und eine jüngeren Stewardess, eine Begegnung im Hotel, das Gefühl ist überschwänglich, dann schleicht sich Trauer über die Ansprüche der Realitäten ein, Abschied und dramatisches Ende. Auch hier folgt der Regisseur einem reizvollen originellen Gegenkonzept zur geläufigen Filmerzählung: Es ist nicht die Geliebte, die den Vordergrund einnimmt und mit ihrer Sinnlichkeit die Ehefrau aussticht. Truffaut richtete es so ein, „daß die Beziehung zu der Jüngeren eher intellektueller Natur ist, daß Männer eines gewissen Alters gern ein Mädchen kennenlernen wollen, daß sie wie eine Tochter behandeln können, und daß in Wirklichkeit die Beziehung zu seiner Ehefrau, die er im Begriff ist zu verlassen, eine sehr sinnliche ist.“ (Truffaut 1981)
Sein Ziel sei es gewesen, den Ton eines Romans von Simenon zu treffen, so kühl und klinisch, eine Liebesgeschichte zu entwickeln, deren Ende man als Meldung in der Zeitung lesen könnte, was ebenso für La Femme d’à côté (1981) gelte, jenem Film über eine unvergessliche, romantisch ergreifende „Verbitterung“ (Truffaut) einer Liebesgeschichte, für die er Fanny Ardant entdeckte, die Muse und Lebensgefährtin seiner letzten Jahre. Deutlich zu bemerken ist Truffauts Abscheu davor, das Physische der Liebe vor die Kamera zu bringen – dagegen dunkelt etwa in La peau douce das Hotelzimmer, als das Paar es betritt, ein, und allein schon das beginnende Spiel der Schatten birgt alle Versprechen, die dem Kino möglich sind. Hatte nicht auch Jean-Paul Belmondo mit den Worten „Der Vorhang zu – das Spiel beginnt“ die Gardinen vor dem Anblick der ausgestreckten Cathérine Deneuve zugezogen, in La sirène du Mississipi (Das Geheimnis der falschen Braut, 1969)?
Kurze Wege zu unserem Herzen
„Truffaut war der Regisseur der kurzen Wege. Der kurzen Wege zu unserem Herzen. Seinen Filmen war kaum eine Empfindung der Stimmung des bürgerlichen Individuums – das sich natürlich nach Erlösung durch Liebe sehnt – fremd. Von der gelösten Heiterkeit eines Sommertags über sämtliche denkbaren Leidenschaften der Liebe und die zerklüfteten
Schluchten von Eifersucht, Haß und Rache bis hin zu den schattigen, monomanen Freuden der Todessehnsucht – Truffaut versuchte, all diese verstörenden, romantischen oder lebensfrohen Gefühle so einfach, so klar und so kurzweilig wie möglich nachempfinden zu lassen. Und dabei war er auch meistens erfolgreich.“ Dieser Anfangsabsatz eines mehrteiligen Textes von Dominik Graf über Truffauts Komponisten, „Unter der süßen Haut“ (SZ, ab 20.Juli 1999), verdeutlicht, wie tief der Regisseur jene Qualitäten emotionaler Intelligenz und warmen Humors, die er Truffaut attestiert, nachzuempfinden vermag. „Die Musiken von Georges Delerue, Antoine Duhamel, Bernard Herrmann und Maurice Jaubert sprechen die Emotionen seiner Filme gewissermaßen synchron mit. Sie folgen ganz und gar der Rhetorik des Erzählers Truffaut und verschaffen ihm den Raum, den er braucht. Denn Truffaut führte im Grunde dem Zuschauer einen endlosen Monolog des Autors vor, unter Zuhilfenahme all der ‚schönen Dinge‘ und der schrecklichen Dinge, die ihm gefallen, die ihn gerührt oder erschreckt haben. Und die Musik wirkt dabei wie eine nie endende Untermalung des Monologs dieses Autors, der so sehr nach Liebe und Anerkennung strebte – und danach, einen Dialog mit uns, seinen Zuschauern, zu führen.“ …
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