Es gibt Filmemacher, die sind so wunderbar umgänglich, aufgeschlossen und unprätentiös, dass man mit ihnen auch Pferde stehlen würde. Jan-Ole Gerster ist einer von ihnen. Mit seinem Debüt Oh Boy, einem Low-Budget-Abschlussfilm ohne viel Rückenwind aber mit Herz und Seele, machte sich der 1978 in Hagen geborene Regisseur vor sieben Jahren gleich auf der großen Bühne einen Namen. Alle Welt verliebte sich Hals über Kopf in das vergnügliche Trauerspiel in Schwarz-Weiß mit einem coolen Jazz-Soundtrack und seinem melancholisch-verträumt Flaneur, der in der Berliner Verlorenheit nach der Wahrheit sucht. Beim Deutschen Filmpreis 2013 hagelte es Preise und auch die internationalen Filmstarts ließen nicht lange auf sich warten. Jan-Ole Gerster, das wurde schnell deutlich, war die neue Hoffnung des deutschen Kinos. Dass es sieben Jahre bis zu seinem nächsten Film dauern sollte, hätte damals niemand geglaubt – auch Gerster nicht. Aber mit dem Erfolg kam der Druck, kamen die Angebote und kamen die Zweifel, bis ihm schließlich das Drehbuch zu Lara in die Hände viel.
Die Geschichte einer Frau, die an ihrem 60. Geburtstag aufwacht und damit ringt, sich in ihrem neuen Lebensabschnitt zurechtzufinden. Vom einzigen Kind entfremdet, von der Mutter schikaniert, von den ehemaligen Kollegen auch nach ihrer Pension noch immer gefürchtet, kämpft sie sich durch den Tag, bewahrt Haltung und die Fassade, um für das große Konzert ihres Sohnes am Abend bereit zu sein. Das tiefe Bedauern, die eigene Pianistinnen-Kariere aufgegeben zu haben, versucht sie auch dann noch mit aller Kraft am Talent ihres Sohnes ins Positive zu kehren, wenn die Schlacht bereits verloren scheint. Die ihr eingeschriebene unbedingte Ehrlichkeit, ein zwingender Ehrgeiz sowie ein dringendes Streben nach Perfektion, das sie auch im Alter nicht abschütteln kann, lassen sie dabei immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Corinna Harfouch verkörpert diese Frau, wie es sonst keine kann, und Gerster gibt der Figur wie der Schauspielerin den Raum, die Leinwand mit ihrer ganzen Größe, Tragik und Brillanz zu erfüllen. Lara ist eine präzise Charakterstudie im klassischen Sinn, mit einem meisterlichen Sinn für Details und Komposition. Ein Film, der zeigt, dass aus dem Hochschulabgänger ein Auteur geworden ist. Und zwar einer, der mit dem Können und dem Ehrgeiz wiedergekommen ist, um zu bleiben.
Jan-Ole Gerster © Joachim Gern
Herr Gerster, die erste Frage liegt auf der Hand: Warum hat es sieben Jahre gedauert, Ihren zweiten Film zu drehen? Nach dem großen Erfolg von „Oh Boy“ standen Ihnen doch sicher alle Türen offen?
Es war eher so, dass mich der Erfolg von Oh Boy tatsächlich ein bisschen überrollt hat, so dass ich damit fast zwei Jahre lang auf Festivals unterwegs war. Man hätte das sicher auch kürzer halten können, aber ich habe mir ein Stück weit gedacht, das ist jetzt das erste Mal und vielleicht kommt’s nie wieder. Doch bevor ich mich versah, war es auf einmal 2014 und ich stand da, völlig erschlagen von der Fülle an Möglichkeiten und Angeboten, die sich mir plötzlich boten. Angebote aus Deutschland bis hin zu Hollywood-Agenten, die einen, sobald man einmal international für zwei, drei Schlagzeilen gesorgt hat, sofort mit Drehbüchern bombardieren, von denen, wie sich ebenfalls schnell herausstellt, allerdings leider nur die allerwenigsten gut sind. Und natürlich habe ich mir unterbewusst auch gedacht, was soll ich jetzt in Hollywood, das macht eigentlich überhaupt keinen Sinn, weil A will ich da überhaupt nicht hin, und B traue ich mir das auch gar nicht zu. Aber natürlich nimmt man als junger Regisseur, der gerade noch ein armer Filmstudent war, erst einmal alles entgegen. Ich glaube, zu der Erkenntnis zu gelangen, was will ich eigentlich, und mit wem will ich arbeiten, das war in diesem Landeprozess nach Oh Boy sehr wichtig für mich. Und das hat etwas gedauert. Wobei ich auch dazu sagen muss, dass ich einen Großteil von dem, was ich erzählen wollte, auch einfach in diesen ersten Film gepackt hatte. Das heißt, es war auch nicht so, dass ich zu Hause eine Schublade voller Ideen hatte, in die ich greifen konnte. Aber nach zwei, drei Jahren fing ich langsam wieder an, eigene Stoffe zu entwickeln, ganz konkret eine Adaption von Christian Krachts Roman Imperium, an der ich auch immer noch arbeite, die allerdings auch sehr vorbereitungs- und rechercheintensiv ist. Das Ganze hätte also auch noch einmal mindestens vier Jahre gedauert, bis ich da überhaupt die erste Klappe geschlagen hätte. Deshalb war die Begegnung mit Blaž Kutin letztlich ein Glücksfall.
Wie ist aus dieser Begegnung der Film entstanden?
Blaž kommt zwar ursprünglich aus Slowenien, lebt aber derzeit auch in Berlin. Ein gemeinsamer Freund machte uns 2016 beim TorinoFilmLab miteinander bekannt und zwischen uns hat es sofort geklickt. In unseren Gesprächen erwähnte er immer wieder ein Drehbuch, dass er bereits vor über zehn Jahren geschrieben, aber nie verwirklicht hatte. Da wurde ich hellhörig und fragte ihn, ob ich es einmal lesen dürfte. Er willigte ein und so traf ich auf Lara. Es war das erste Drehbuch, von dem ich das Gefühl hatte, dass ich es selber gerne geschrieben hätte, das hat eine Tonalität, mit der ich was anfangen kann. Ich fand diese Frau geheimnisvoll und wollte ergründen, warum sie mich so rührt und bewegt und betrifft. Und nachdem mir Blaž die Einwilligung gegeben hatte, war danach auch relativ schnell klar, dass Lara mein nächster Film werden würde.
Denken Sie, es gibt in der Kinowelt tatsächlich so etwas wie ein „Zweiter-Film-Syndrom“?
Ich habe es mir lange nicht eingestanden. Aber über die Jahre wurde ich immer wieder darauf angesprochen, bis ich mich dann irgendwann selber gefragt habe, ob es das gibt. Und im Nachhinein glaube ich, irgendwie schon. Ganz generell, mit Romanen oder Musikalben ist das ja nicht anders, wenn das erste Werk ein großer Hit war. Das Problem besteht darin, dass man beim ersten Film, beim ersten Buch der der ersten Platte völlig aus dem Nichts kommt. Hat man sich erst einmal etabliert, wird es einfacher. Aber beim ersten Mal wird eben ganz genau hingeguckt. Und das schwebt dann ständig irgendwo so über einem. Also muss man sehr stark darauf achten, dass es einen nicht zu sehr erdrückt.
Im Nachhinein betrachtet: War der frühe Erfolg, den Sie mit „Oh Boy“ hatten, eher Segen oder Fluch?
Ich will auf keinen Fall sagen, dass es ein Fluch war. Es war ein großes Glück und zeitweise ein fast märchenhafter Zustand, was ich mit meinen Debütfilm erlebt und erreicht habe. Aber auch wenn ich damals immer behauptet habe, es bedeute mir eigentlich alles gar nicht so viel, hat es mich innerlich, glaube ich, doch ganz schön aufgewühlt …
Vollständiger Artikel in der Printausgabe
LARA
Drama, Deutschland 2019 – Regie Jan-Ole Gerster
Drehbuch Blaž Kutin Kamera Frank Griebe Schnitt Isabel Meier, Guillaume Guerry
Musik Arash Safaian Production Design Kade Gruber Kostüm Anette Guther
Mit Corinna Harfouch, Tom Schilling, Rainer Bock, Volkmar Kleinert
Verleih Constantin Film, 98 Minuten
Kinostart 8. November 2019