Wienliebe. Ein Wort, das wohl nur jene im Herzen tragen, die hier wohnen oder leben. Ein geflügeltes Wort, das für alle anderen eigentlich gar keinen Sinn ergibt, möchte man meinen. Sucht man es aber beispielsweise auf Social-Media-Kanälen wie Instagram, findet man fast 19.000 Beiträge. Imposante Sehenswürdigkeiten sind da zu sehen, genauso wie Selfies mit Fiaker-Pferden oder die obligatorische Tasse Melange. Am häufigsten jedoch sieht man besondere, fast unscheinbare Plätze, versteckte Ecken und Momentaufnahmen urbaner Fundstücke. Einige davon – und das sind die mit ganz besonderem Charme – so unauffällig, dass man meist daran vorbeiläuft und ihnen keine Beachtung schenkt. Genau diesen Eindrücken nahm sich Rudolf Kohoutek mit seinem Buch „Wiener Grund“ an und dokumentierte sie aus seiner ganz persönlichen Sichtweise. Durch die Linse seiner Kamera durchmisst er seine Stadt, dokumentiert sie mit Texten und Fotografien, erkundet die Schnittstellen zwischen öffentlichen und privaten Räumen, Innenstadt und Vorstadt, Reichtum und Armut. „Eine Untersuchung zu den Ingredienzien der Stadt und des Städtischen“ nennt es der Autor selbst. Dabei sind es oft Fassaden, Türen, Tore und Fenster, die Kohoutek auf den Auslöser drücken ließen, mal gewollt und manchmal auch einfach aus dem Bauch heraus, wie er im Buch schreibt. „Störfaktoren“ wie Graffiti, Blätter, Ranken oder Mülltonnen werden nicht wegzensiert, sondern fügen sich in das Bildnis ein und erwecken dadurch fast schon einen rührenden Eindruck. Unbedeutend erscheinende Kellerfenster, abblätterndes Mauerwerk, niedrige Biedermeierhäuser, die auf ihren Abriss warten – die Melancholie der großen Stadt.
Der Charme von Vergänglichkeit und Jetztzeit
Die Fotografien mögen Wien nicht von seiner spektakulärsten Seite zeigen. Sie wollen aber auch gar nicht eine weitere Darstellung des repräsentativen Wiens oder ein nostalgischer Blick auf Reste der Vergangenheit sein, Sondern ein zugleich subjektiver und sachlicher Zugang zum Ist-Zustand. Im Buch „Wiener Grund“ verschränken sich Text- und Bildstrecken kapitelweise und geben so die vielschichtigen Wahrnehmungen der Stadt mit ihren Stimmungen, Färbungen und Raumfiguren wieder. Es ist jedoch mehr als ein ungewöhnliches Porträt der österreichischen Hauptstadt: Dazwischengestreut sind auch sehr persönliche Eindrücke und Gedanken des Fotografen. Theoretisches zu Themen wie Fotografie, Urbanismus und Architektur werden zum Thema, genauso wie Zitate und Auszüge großer kreativer Köpfe wie William S. Burroughs, Marcel Proust, Gustave Flaubert oder Gertrude Stein. Intensive Déjà-vu-Momente für den Leser und vielleicht auch die Erkenntnis, dass man seine Augen auch für das Unwesentliche öffnen sollte. Die „Vermessung einer Liebe“ –nicht nur eine Betrachtung Wiens, sondern des Typus Stadt an sich, festgehalten in Fotografien aus dem Moment heraus. Man könnte es aber auch so sagen, wie es im Buch so schön beschrieben wird: Ein Bild kommt, wann es will.
Rudolf Kohoutek
Wiener Grund
Park Books, 1. Auflage 2017
Gebunden, 224 Seiten
389 farbige Abbildungen