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Wir werden als Aktivisten geboren

Die Indigene Kay Sara ist Schauspielerin, Aktivistin – und Netflix-Star aus Brasilien. Mit Milo Raus Theaterprojekt „Antigone im Amazonas“ kommt sie zu den Wiener Festwochen und katapultiert in der Titelrolle die antike Tragödie in die Gegenwart von Klimakatastrophe und Turbokapitalismus.

Kay Sara, Antigone im Amazonas © Michiel Devijver

Vor drei Jahren bereits hätte Antigone im Amazonas in der Regie von Milo Rau bei den Wiener Festwochen gezeigt werden sollen; dann kam die Pandemie dazwischen. Die geplante Eröffnungsrede der Hauptdarstellerin Kay Sara im Burgtheater war damals als Stream zu sehen und ging viral. Darin berichtete die junge brasilianische Schauspielerin und Aktivistin eindrucksvoll vom aktuellen Raubbau an der Natur und der systematischen Unterdrückung indigener Völker seit der „Eroberung“ Südamerikas.

Mit einer Sophokles-Tragödie gegen den Turbokapitalismus: Nun feiert das Stück mit einem Ensemble aus Brasilien und Europa und einem Chor der Landlosen endlich Festwochen-Uraufführung. „Die Aktualisierung besteht ganz zentral in der Kontextualisierung, der Begegnung des Antikenmythos mit der Situation im Amazonas“, sagt Regisseur Milo Rau, der ab der nächsten Saison als neuer Intendant der Wiener Festwochen fungieren wird. 2019 ist der Theatermacher mit ein paar Stücken durch Brasilien getourt, erzählt er. „Da fragte mich die Landlosenbewegung MST, die größte soziale Bewegung Brasiliens, die die Landreform aktivistisch umsetzt und durch Besetzungen unterdessen über 400.000 Familien zu Land verholfen hat, ob ich mit ihnen arbeiten will. Wir haben uns dann für ,Antigone‘ als Basis entschieden, wegen den Antagonismen moderner / traditioneller Staat, Antigone / Kreon – und für eine Inszenierung ganz im Norden Brasiliens, wo sich die Soja- und Palmölplantagen in den Urwald fressen und die Milizen der Großgrundbesitzer gewalttätig gegen die Indigenen und Kleinbauern vorgehen.“

Für Rau war klar, dass diese Antigone eine indigene Aktivistin und Schauspielerin sein muss, sagt er. „Da kam eigent-lich nur Kay Sara in Frage: eine junge, in Brasilien schon sehr berühmte indigene Darstellerin, bekannt aus der Netflix-Serie Unsichtbare Stadt und zahlreichen Filmen, in denen sie den Forderungen ihrer Community Ausdruck verleiht. Sie gehört in Brasilien zur ersten Generation von indigenen Schauspielerinnen, die nicht als Statistinnen auftreten, sondern in Hauptrollen – sie ist eine Ikone. Und sie ist die erste indigene Antigone, die erste indigene antike Tragödin überhaupt.“ Für Milo Rau ist das eine Theater-Revolution: „Uns war klar, dass diese historische Rolle nur von jemandem ausgefüllt werden kann, der sich all dessen total bewusst ist – der uns in ihrem Bewusstsein vorangeht. Jemand wie Kay Sara.“

Das Interview mit Kay Sara fand schriftlich über mehrere Kontinente und Sprachen statt, in ihren Antworten ist der junge indigene Filmstar präzise – und bleibt auch als Schauspielerin stets Aktivistin.

Kay Sara, Sie sind in Brasilien, wenn Sie die Fragen beantworten. Wenn Sie zehn Minuten zu Fuß gehen würden, was würden Sie sehen?
Jetzt befinde ich mich an einem Ort im Urwald des Amazonas. Aber wir befinden uns zwischen zwei Welten, wo es Dinge gibt, die bereits vom Menschen verändert wurden, und gleichzeitig können wir noch die Natur um uns herum sehen. Die Kultur Amazoniens ist hier noch sehr lebendig, vor allem was die Pflanzen betrifft, die die Leute anbauen. Würde ich zehn Minuten zu Fuß gehen, würde ich ein Randgebiet sehen, mit einem Fluss unter offenem Himmel und viel Verwüstung.

Sie sind jung, haben Sie jemals eine andere, unberührte Welt erlebt?
Ich pendle viel zwischen dem Urwald des Amazonas und der Stadt. Ich bin tatsächlich mitten im Urwald aufgewachsen. Auch wenn der größte Teil des Waldes der Region, in der ich geboren wurde, schon zerstört worden ist, gibt es dennoch Orte, die kein Mensch je betreten hat. Weil die Indigenen diese Orte durch Segnungen und Schutzmaßnahmen verborgen halten und vor Zerstörung schützen konnten. Wenn ich darüber nachdenke, kam es selten vor, dass ich im Amazonas-Regenwald unterwegs war, ohne Spuren des Menschen zu sehen. Das wird deutlich sichtbar durch das Plastik, das man findet, wenn man im Urwald unterwegs ist.

Antigone im Amazonas © Heloisa Bortz

Mit sieben Jahren haben Sie schon in Filmen gespielt. Was war der Grund, Schauspielerin zu werden?
Ich sage immer, dass mein Schicksal in Wirklichkeit schon vor meiner Geburt vorgezeichnet war. So steht es sogar im Text von Antigone. Es war nie mein Traum, Schauspielerin zu werden. Aber die Kunst gehört zu den indigenen Völkern, auch wenn sie nicht Theater, Performance oder Kino genannt wird. Für uns ist die Person, die Kunst, Musik oder Theater macht, der „baya“. Ich bin in diesem Umfeld aufgewachsen. 1991 und 1992 haben meine Großeltern in zwei Filmen
mitgewirkt.

Was ist heute der Grund, weshalb Sie sich für den Schauspielberuf entschieden haben?
Schließlich habe ich mich selbst als Schauspielerin entdeckt. Ich habe verstanden, dass ich eine Aufgabe habe, dass ich dadurch etwas für das Wohl anderer Menschen tun kann. Als ich jünger war, habe ich mich inexistent gefühlt. Später habe ich begriffen, dass ich durch das Kino, durch das Theater, anderen das Gefühl geben kann, sich nicht so inexistent zu fühlen wie ich damals. Obwohl ich seit meinem 14. Lebensjahr beim Film arbeite, kann ich erst seit vier Jahren mit Stolz sagen, dass ich Schauspielerin bin.

Was wollen Sie als Schauspielerin erreichen?
Ich will, dass mehr Menschen über indigene Völker Bescheid wissen. Ich will aber auch der Welt unsere Kunst zeigen. Mein ganzes Leben lang habe ich künstlerisch mit nicht-indigenen Menschen kooperiert – es ist uns immer gelungen, etwas zu erschaffen. Aber ich habe das Gefühl, dass ich noch Leute brauche, die von ihrem Ort der Sprache aus Regie führen und arbeiten und Projekte nur mit ausschließlich indigenen Personen aufbauen. Wir Indigene wurden immer gelenkt, wir wurden von nicht-indigenen Menschen repräsentiert, unsere Geschichte wurde immer auf die falsche Weise erzählt. Mein Ziel ist es, unsere Geschichte neu zu schreiben und der Welt zu zeigen, wie schön unsere Kosmologie, unsere Kunst ist. Ohne viel Einmischung der westlichen Kultur.

Wie wurden Sie zur Aktivistin?
Ich hatte keine andere Wahl. Ich habe mein Leben, meine Jugend der indigenen Sache gewidmet. Als Aktivistin hat man keine Kindheit, keine Jugend, man kann kein normales Leben führen wie andere Menschen, die keine Sache haben, für die sie kämpfen müssen. Das ist bei Nicht-Indigenen nicht der Fall. Wir werden als Aktivisten geboren, sonst werden wir wieder eine Auslöschung erleiden. Und wir müssen existieren, deshalb kämpfe ich mittels der Kunst, um mehr Sichtbarkeit zu erreichen, mehr Inklusion.

Wie sieht Ihr Aktivismus aus?
Der Aktivismus, den ich betreibe, findet in der Kunst statt, weil dies ein Ort ist, der noch nicht von indigenen Menschen besetzt ist. In dieser Welt leisten wir – ich und meine Gruppe – Pionierarbeit. Ich glaube, dass es uns durch die Kunst gelingen wird, zu existieren und für die Welt sichtbar zu werden. Und ich schaffe das, indem ich Geschichten auf wahrheitsgetreue Weise erzähle. Ich sage immer, dass ich, Kay Sara, nicht alle Völker in Brasilien repräsentiere, sondern nur meine Ethnie. Aber aufgrund meiner Erfahrungen, die ich gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden, mit anderen Indigenen gemacht habe, habe ich das Gefühl, dass ich durch die Geschichten, die ich erzähle, die Art und Weise, wie ich mich darstelle, einen Ort erschaffe, an dem sie sich stärker vertreten fühlen.

Dient Ihr Aktivismus womöglich uns allen?
Ich setze mich nicht nur für die indigene Causa ein, sondern auch für Menschenrechte und soziale Gleichheit. Mein Aktivismus ist mit verschiedenen anderen Bereichen des Humanismus selbst verbunden. Wir sollten menschlicher sein und mehr Empathie für andere Menschen haben. Nur dann können alle Gemeinschaften der Welt existieren und nicht nur die weißen Menschen.

Antigone im Amazonas, Foto: Philipp Lichterbeck

Kay Sara © Armin Smailovic

Sie sagen, es sei Zeit zuzuhören. Wer soll schweigen und wem sollen wir zuhören?
Wenn wir das sagen, dann sagen wir, dass wir seit der Invasion, die sowohl in Nord- als auch in Südamerika vonstatten geht, nie gehört wurden. Nie hat uns jemand nach unseren Körpern gefragt, um Erlaubnis gebeten, unser Territorium zu betreten, das heute Brasilien heißt. Ein Gebiet, das kolonisiert wurde. Heute sind wir Indigene weniger als 900.000, früher waren wir fast drei Millionen Menschen. Wir würden heute nicht in dieser Situation des ökologischen Ungleichgewichts und der globalen Erwärmung stecken, wenn alles von Anfang an mit Respekt behandelt worden wäre. Es gibt indigene Völker und es gibt die Natur, und wir haben immer gewusst, wie wir im Gleichgewicht mit der Natur leben können. Für uns, innerhalb meiner Ethnie, sind es Wesen. Alles hat Leben. Wir brauchen diesen Ort, um auf die Natur zu hören. Um zu verstehen, was die Natur sagen möchte. Die indigenen Völker wissen, wie man im Gleichgewicht lebt. Das Einzige, was der nicht-indigene Mensch tut, ist zerstören. Als ehrgeiziger Mensch denkt er nur an Macht, an Geld, und er denkt nur daran, andere Völker auszunutzen, die nicht so aussehen wie er selbst.

Viele haben doch das Gefühl, zu wissen, was auf der Welt alles falsch läuft – wieso reagieren wir nicht?
Von klein auf wurden wir zum Egoismus erzogen; unabhängig davon, aus welcher Kultur wir stammen, aber vor allem in der Westlichen Welt. Europa hat mit der Kolonisierung anderen Kulturen Konzepte und Ideologien aufgezwungen. Indigene Völker, aber auch andere Minderheiten werden letztendlich unterdrückt. Wir werden nicht gehört. Die einzige Stimme, die gehört wird, ist die der Weißen. Aber nicht alle denken so wie ihr. Damit komme ich wieder auf die Frage der Macht zurück: Wer die Macht hat, entscheidet, wie man denkt, wie der andere denken wird, welche Informationen den anderen erreichen. Bei manchen Menschen kommen die Informationen verzerrt an. Die Informationen, die bei mir ankommen, sind nicht dieselben wie die Informationen, die bei anderen ankommen. Wir haben die Freiheit zu entscheiden, was wir sehen wollen. Ich zum Beispiel entscheide mich dafür, das Unglück zu sehen, das in der Welt geschieht, einen humanistischeren Blick zu haben. Andere entscheiden sich einfach dafür, wegzuschauen, weil sie einem privilegierten Ort entstammen. Wenn man sich an diesem anderen Ort befindet, wenn man näher an der Realität des Leidens, des Schmerzes, des Völkermordes, der Vergewaltigung von Frauen ist, denke ich, dass man empathischer ist. Menschen, die an der Macht sind, berauben sich selbst und werden auch des Interesses beraubt. Sie wurden dazu erzogen, egoistische Menschen zu sein und andere auszubeuten …

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 70

 

Antigone im Amazonas
Milo Rau / NTGent
25.–27. Mai, Burgtheater

Wiener Festwochen
12. Mai bis 21. Juni 2023
www.festwochen.at

 

 

| FAQ 70 | | Text: Christopher Wurmdobler
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