Schönheit ist, klassisch gesehen, eine Sache der Natur. Viele Jahrhunderte lang gab es zwar auch schon Versuche, ein wenig nachzuhelfen, mit einem Hauch Puder hier oder einem strengen Korsett da. Aber im Wesentlichen galt das Urteil der Geburt: Schön war, wer so geschaffen war, von Gott oder eben von einer Natur, die als Schöpfung begriffen wurde. Erst seit einiger Zeit hat sich eine neue Auffassung durchgesetzt. Schönheit ist jetzt eine Sache der Kunst. Wobei man sicher diskutieren kann, wo die Kunst anfängt (Bei einem guten Make-up?) und wo sie aufhört (Bei der scheinbar ewigen Jugend von Nicole Kidman? Bei den radikal aufgebrezelten Figuren in manchen Pornos?). Für Vera Gemma, Schauspielerin und Society-Lady in Rom, hat Schönheit etwas mit Veränderung zu tun. Sie wäre am liebsten trans, oder würde zumindest den Eindruck erwecken wollen, geschlechtlich auf die andere Seite zu wechseln. Sie äußert sich nicht allzu konkret in dem Film, den Tizza Covi und Rainer Frimmel ihr gewidmet haben, aber man versteht sie wohl nicht falsch, wenn man vermutet, dass sie an einer Trans-Identität den Aspekt des Gemachten faszinierend findet. Ein Mensch, ein Wesen, das sich mit Hilfe von Eingriffen und Substanzen von sich weg und auf sich zu bewegen kann. Ein Selbstschöpfungsprozess, der vielleicht nie ganz am anderen Ende ankommt, der aber auf jeden Fall über den jeweiligen Moment hinausweist. Trans als ein Aspekt von individueller Utopie, Trans auch vielleicht als ein Missverständnis heutiger Schönheitsideale und Diversitätspolitik. Trans vielleicht sogar, auch dieser Gedanke ist nicht vollständig abzuweisen, als Akt der Verzweiflung, weil die Schönheitsideale so schwer lesbar geworden sind, und nur noch eine Flucht nach vorne bleibt.
Schönheit ist Vera Gemma in die Wiege gelegt worden. Sie ist die Tochter von Giuliano Gemma, einem italienischen Schauspieler, den man aus zahlreichen Italo-Western kennt. Auf den Fotos, die Vera aus ihrer Kindheit aufbewahrt, sieht man einen strahlenden Mann, ein selbstbewusstes Idol von eleganter Maskulinität. So ein Erbe kann auch unter Druck setzen. Vera hat vielleicht gute Gene mitbekommen, wie man so schön sagt, aber auch hohe und oft falsche Ansprüche. Denn Italien ist ein konservatives Land, was die Rollen der Geschlechter anlangt. Im Fernsehen sieht man oft alte Herren umgeben von Dutzenden langbeinigen Starlets. Die einen haben die Stimme, die anderen das Lächeln. Von Silvio Berlusconi gar nicht zu sprechen, der sogar ein Wort für institutionelle Misogynie erfunden hat: bunga bunga.
In dieser Kultur ist Vera Gemma groß geworden. Man sieht es ihr ein wenig an. Sie hat an sich herumbasteln lassen, nun fällt sie gleich doppelt auf, als natürliche Schönheit und als Kunstprodukt. Im Gespräch mit einem jungen Mann, der sie nachts im Taxi nach Hause gebracht hat, stellt sie ihre Attraktivität auf die Probe, doch er will nicht mit nach oben kommen. Der Dialog hat aber etwas Zärtliches, man sieht, dass da noch ein Charisma wirksam ist, das langsam von Zweifeln angegriffen wird, das aber immer noch Kraft hat. Es ist auch ein erstes Anzeichen dafür, was Tizza Covi und Rainer Frimmel mit Vera vorhaben – nämlich einen ungewöhnlichen Dokumentarfilm, ein Porträt, das sich auch an der Schwelle zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, zwischen dem Spontanen und dem Gestalteten positioniert. Vera ist ein bedeutender nächster Schritt in der Entwicklung einer Methode, mit der Covi und Frimmel einen ganz eigenen Ort im Kino der Gegenwart für sich suchen, einen nicht binären Ort zwischen Mimesis und Fiktion, zwischen abgebildeter Wirklichkeit und erfundener. Man könnte auch sagen: einen Ort, an dem sie Voraussetzungen schaffen dafür, dass sich etwas Wahrhaftiges ereignen kann.
Vera ist dafür eine ideale Protagonistin. Sie kommt zwar nicht vom Zirkus, wie so viele der früheren Figuren bei Covi und Frimmel: Babooska, Walter Saabel, Tairo. Sie kommt aber aus einem Zirkus: dem italienischen Starsystem der Gegenwart, zu dem Vera zumindest am Rand immer noch gehört. Als sie sich einmal für einen Film vorstellt, erfährt sie, dass es um eine Kostümrolle ginge, für die sie leider ungeeignet ist, weil sie eben schon zu viel mit sich hat machen lassen. Als der Regisseur aber mitkriegt, mit wem er es zu tun hat, mit der Tochter von Giuliano Gemma eben, ist er begeistert und möchte unbedingt ein Foto. Glanz und Abglanz in einer Szene. Covi und Frimmel kehren in Vera die Bewegung um: Sie finden für Vera neue Weisen, zu glänzen, sie erfinden gemeinsam mit ihr einen neuen Glamour, der nicht mehr von Castings und Einladungen zu Fernsehshows abhängt, sondern der mit einer neuen Verwurzelung in der italienischen Kultur zusammenhängt.
Sie bedienen sich dabei eines einfachen erzählerischen Tricks. Der Chauffeur von Vera verursacht einen Unfall. Er wird von Walter Saabel gespielt, der quasi der Hausheilige bei ihnen ist, seit Babooska kennt man ihn aus ihren Filmen, in Der Glanz des Tages hat er an der Seite des Starschauspielers Philipp Hochmair eine der bewegendsten „Rollen“ gespielt, die jemals unter dem zweifelhaften Stichwort Laienschauspiel zu verzeichnen waren. Nun fährt Walter Saabel eben Vera durch die Gegend, und dabei einen Jungen über den Haufen. Zum Glück bleibt es bei einer kleineren Verletzung, ein gebrochener Arm immerhin. Vera schließt Freundschaft mit dem Jungen, dann auch mit dessen Vater, einen über und über tätowierten Mechaniker, schließlich sogar noch mit dessen Mutter, einer frommen Dame, die sich noch an das Rom unter den Faschisten erinnern kann. Die ganze italienische Nachkriegsgeschichte kann man in dieser Familie in einer Andeutung erkennen, die proletarische Widerständigkeit und Solidarität von früher, die nun zum Teil einem martialischen Individualismus gewichen ist. Vera verlässt zum ersten Mal das Zentrum von Rom, auch das eine Trans-Erfahrung, sie transzendiert ihre privilegierte Existenz, die sie im übrigen sowieso durch eigenes Ungeschick auch schon ein bisschen ramponiert hat.
Covi und Frimmel schaffen es, ohne Anstrengung mit Vera immer neue Situationen zu erfinden, die zugleich Erkundungen sind. Nichts ist gestellt, manches aber ist doch auch auf eine gewisse Weise inszeniert. Selbstinszenierung und Performativität (um ein jüngeres Modewort aus den Künsten zu bemühen) gehen ineinander über, dabei bleibt alles einem dokumentarischen Ethos verpflichtet. Die Mythologie des Kinos wird transrealistisch. Vera muss zu keinem Casting mehr gehen, sie ist längst in ihrem eigenen Film. Sie tritt aus dem Schatten ihres Vaters, indem sie auf eine gänzlich unerwartete Weise ein Star wird. Das Italien der gnadenlos ausgeleuchteten Shows wird ihr nach Vera nicht die Tür einrennen. Aber sie gehört nun zu dem untergründigen Italien, aus dem sich die Kultur speist, die bei Covi und Frimmel zu einer Überlebensform wird: ein natürliches Italien, dem man sich auch auf dem Umweg über Kunst und Künstlichkeit nähern kann.
VERA
Drama/Dokumentarfilm, Österreich 2022
Regie Rainer Frimmel, Tizza Covi Drehbuch Tizza Covi
Kamera Rainer Frimmel Schnitt Tizza Covi
Musik Florian Benzer, Michael Pogo Kreiner
Mit Vera Gemma, Daniel de Palma, Sebastian Dascalu, Annamaria
Ciancamerla, Walter Saabel, Asia Argento, Giuliana Gemma
Verleih Stadtkino Wien, 115 Minuten
Kinostart 6. Jänner 2023