Als am 7. März 2010 die 82. Oscar-Verleihung vorüber war, hatte der große Sieger des Abends das geschafft, was im Ressort der Sportberichterstattung mit dem Attribut „Überraschungserfolg“ versehen worden wäre. Denn mit The Hurt Locker hatte ein Film sechs Oscars gewonnen – darunter in den Kategorien Bester Film und Beste Regie – der mit knapp 15 Millionen Dollar, zumindest für Hollywood-Begriffe, mit einem schmalen Budget auskommen musste und sich zudem recht ungewöhnlich mit dem brisanten Thema des Einsatzes US-amerikanischer Truppen im Irak auseinandersetzte. Dass The Hurt Locker sich dabei gegen starke Konkurrenten wie James Camerons Avatar und Quentin Tarantinos Inglorious Basterds durchzusetzen vermochte, machte den Triumph dieses Films nur umso bemerkenswerter. Es war aber auch ein Erfolg, der der Regisseurin von The Hurt Locker jene Anerkennung und Aufmerksamkeit einbrachte, die sie sich mit ihrem Œuvre schon längst verdient hatte. Denn Kathryn Bigelows Filme zählten stets zum Besten und Spannendsten, was das US-amerikanische Genrekino zu bieten hatte. Dass der Weg zur Anerkennung nicht immer unkompliziert war, zeigt sich auch daran, dass es Bigelow in mittlerweile knapp dreißig Jahren auf gerade einmal neun Spielfilme gebracht hat.
Ambivalente Charaktere
Kathryn Bigelow studierte zunächst Malerei am San Francisco Art Institute, erhielt später ein Stipendium des Whitney Museum of American Art in New York, wo sie dann an der Columbia University ein Filmstudium aufnahm. Als Teil ihrer Abschlussarbeit drehte sie dabei 1978 den Kurzfilm The Set-Up. Vier Jahre später konnte sie dann mit dem im Biker-Milieu angesiedelten The Loveless ihren ersten Spielfilm verwirklichen, den sie gemeinsam mit Monty Montgomery inszenierte. Die Hauptrolle übernahm ein damals noch weitgehend unbekannter Schauspieler namens Willem Dafoe. Mit ihrem nächsten Film konnte Kathryn Bigelow jedoch bereits deutlich auf sich aufmerksam machen. Near Dark (1987) ist eine moderne, hochoriginelle Variation des klassischen Vampirmotivs. In Bigelows Version erscheinen die Blutsauger als ziemlich verwahrloste Gestalten, die wie Marodeure durchs ländliche Amerika auf der Suche nach potenziellen Opfern ziehen. An den Kinokassen war Near Dark zwar kein Erfolg beschieden, doch im Lauf der Zeit erlangte der Film nicht nur unter Genrefans Kultstatus. Auch in Blue Steel (1989) findet sich ein eher ungewöhnlicher Zugang zu einem bewährten Genre wie dem des Thrillers. Dabei gerät die junge Polizistin Megan (Jamie Lee Curtis) bei ihrem ersten Einsatz in einen Überfall und sieht sich gezwungen, den Räuber zu erschießen. Einer der unbeteiligten Passanten bringt im allgemeinen Durcheinander jedoch unbemerkt die Waffe des Räubers an sich, was fatale Auswirkungen hat: Megan kann nicht beweisen, dass sie in Notwehr gehandelt hat, der vermeintlich harmlose Zeuge entpuppt sich als Psychopath, der mit der gestohlenen Waffe zu morden beginnt. Und er nimmt Kontakt zu der nichtsahnenden Polizistin auf. Als Megan jedoch nach und nach die abgründige Natur des Mannes herausfindet, sieht sie sich nicht nur einer handfesten Gefahr gegenüber, sondern muss auch erkennen, dass das sich entwickelnde mörderische Katz-und-Maus-Spiel eine seltsame Faszination auf sie ausübt.
Ambivalente Charaktere stehen auch im Mittelpunkt von Point Break (deutscher Titel: Gefährliche Brandung, 1991). FBI-Agent Johnny Utah (Keanu Reeves) ermittelt undercover, um eine Gruppe Bankräuber ausfindig zu machen, die sich bei ihren Beutezügen skurrilerweise mit Faschingsmasken, die die Gesichtszüge von US-Präsidenten aufweisen, tarnen. Weil einige Indizien darauf hindeuten, dass die Gangster leidenschaftliche Surfer sind, taucht Utah in diese Szene an den Stränden Kaliforniens ein und findet Anschluss an eine Gruppe dieser Surfer. Schon bald ist er fasziniert von der Energie, Risikobereitschaft und der Suche nach der unbedingten Freiheit, die innerhalb dieser Clique vorherrschen, besonders mit dem charismatischen Anführer der Gruppe Bodhi (Patrick Swayze), verbindet ihn bald eine Freundschaft. Umso entsetzter reagiert Utah, als ihm schließlich klar wird, dass er genau die gesuchten Bankräuber vor sich hat. Obwohl er durchaus Sympathien für die Gruppe hegt, muss er als Gesetzeshüter eigentlich gegen sie vorgehen – als seine Tarnung auffliegt und Bodhi ein diabolisches Spiel mit Utah zu treiben beginnt, wird die Sache für den FBI-Mann richtig prekär.
Blue Steel und Point Break zeigen bereits exemplarisch jene Qualitäten, die Kathryn Bigelows Kino auszeichnen. Ihre Regiearbeiten sind zunächst exzellente Genrefilme, die sich jedoch immer auch an Grenzen des Genres herantasten. Was etwa die Zeichnung und Konstellation der Charaktere angeht, bewegen sich Bigelows Filme über Genrekonventionen doch recht weit hinaus. Insbesondere das traditionelle Gut-Böse-Schema wird dabei mit einer Konsequenz unterwandert und aufgelöst, die man ansonsten bestenfalls im Film noir vorfindet. Dies trägt entscheidend dazu bei, dass sich Bigelows Inszenierungen durch eine düstere, pessimistische Grundstimmung auszeichnen, die ihren Filmen nicht nur eine ungemein dichte Atmosphäre verleiht, die in ihrer Intensität über gängiges Genre-Kino weit hinausgeht, sondern auch eine grundlegende Skepsis in sich tragen, die man fast schon als Kulturpessimismus qualifizieren könnte.
Dunkle Seiten
Diesem düsteren Pessimismus trägt der dystopische Thriller Strange Days (1995) kongenial Rechnung. Im Mittelpunkt steht dabei der Ex-Cop Lenny Nero (Ralph Fiennes), der sich als Dealer ganz besonderer, allerdings illegaler, Clips verdingt. Diese beinhalten aufgezeichnete Erlebnisse anderer Personen, die mittels elektromagnetischer Signale über ein spezielles Headset an die Konsumenten dieser Clips übertragen werden und die sich durch das Erleben einer fremden Realität den ultimativen Adrenalinschub erhoffen – und das völlig risikofrei. Doch als Lenny unfreiwillig in den Besitz einer Disc gelangt, die die Aufzeichnung eines Mordes beinhaltet, gerät er in ungeahnte Turbulenzen. Denn der Mord an einem sehr populären Rap-Musiker durch Polizisten sollte vertuscht werden, weil das Verbrechen sonst für schwere Unruhen in der Bevölkerung sorgen könnte. Lenny Nero muss bald erkennen, dass er sehr mächtigen Kreisen in die Quere gekommen ist.
Obwohl Strange Days in einer zum Zeitpunkt der Produktion nahen Zukunft spielt – nämlich in den letzten Dezembertagen 1999 – zeichnet der Film ein sehr düsteres Bild der US-amerikanischen Gesellschaft. Die Gegensätze zwischen Arm und Reich haben sich dramatisch verschärft, über dem Schauplatz Los Angeles liegt permanent so etwas wie eine bürgerkriegsähnliche Anspannung. Zudem nimmt Strange Days das Abtauchen in virtuelle Welten samt allen damit einhergehenden Problemen ebenso vorweg wie alle mit dem Jahrtausendwechsel verbundenen Umbruchs- und Untergangsphantasien. Obwohl alle diese Motive höchst gekonnt zu einem intelligenten und vor allem ungemein spannenden Thriller verwoben sind, war Kathryn Bigelows sinistre Vision für den Mainstream wohl doch ein wenig zu finster – der Film wurde kein finanzieller Erfolg.
Strange Days zeigt auch die den Arbeiten von Kathryn Bigelow innewohnende Ambivalenz, die vermutlich der Grund dafür ist, dass ihr eine breite Anerkennung erst mit The Hurt Locker zuteil wurde. Für den Mainstream waren ihre Arbeiten mit all den lustvollen Abgründen zeitweilig zu grenzgängerisch, für den Arthouse-Sektor sind ihre Filme viel zu sehr dem jeweiligen Genre verpflichtet. Dabei steht es außer Frage, dass Bigelow zu den profiliertesten Auteurs zählt, die das US-amerikanische Kino in den letzten 25 Jahren hervorgebracht hat. Die Verbindung einer ausgeprägten persönlichen Handschrift mit dem Genrefilm knüpft dabei an eine lange, seit klassischen Hollywood-Zeiten gepflegte Tradition an.
Die Konsequenz, mit der Kathryn Bigelow ihre Vorstellung von Kino umsetzte, trug ihr in dem auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Umfeld Hollywoods allerdings auch so manche Durststrecke ein. So dauerte es nach dem finanziellen Misserfolg von Strange Days fünf Jahre, bis sie mit der Literaturadaption The Weight of Water ihr nächstes Spielfilmprojekt realisieren konnte. Noch drastischer waren die Auswirkungen, die Bigelow mit K-19: The Widowmaker (2002) erfuhr. Der auf wahren Begebenheiten beruhende Film erzählt die Geschichte eines Reaktorunfalls an Bord eines sowjetischen U-Boots im Jahr 1961. Um eine nukleare Katastrophe zu verhindern, müssen sich die Besatzungsmitglieder im Zug der Reparaturarbeiten einer lebensgefährlichen Strahlendosis aussetzen. Trotz einer Starbesetzung mit Harrison Ford und Liam Neeson wurde der Film, der vor allem als psychologisches Drama hochspannend ist, ein finanzieller Reinfall – was vermutlich in erster Linie daran lag, dass das US-Publikum Schwierigkeiten hatte, auch nach Ende des Kalten Kriegs Sowjet-Bürger als positiv gezeichnete Protagonisten zu akzeptieren. Dass der Film mit knapp 100 Millionen Dollar ein recht hohes Budget versenkt hatte, machte Bigelow auch nicht gerade zu einem Liebling der Hollywood-Produzenten. Darauf angesprochen, ob sie es als Filmemacherin möglicherweise schwerer als ihre männliche Kollegen hätte, reagierte Bigelow allerdings betont pragmatisch: „There’s really no difference between what I do and what a male filmmaker might do. I mean we all try to make our days, we all try to give the best performances we can, we try to make our budget, we try to make the best movie we possibly can.“
Es sollte weitere sieben Jahre dauern, bis Kathryn Bigelow 2009 ein fulminantes Comeback feiern konnte. The Hurt Locker stellt die Mitglieder einer im Irak stationierten Einheit, deren Aufgabe die Bombentenschärfung ist, in den Mittelpunkt. Bigelows Inszenierung zeigt die Soldaten als betont unheroisch agierende Spezialisten, die beinahe pragmatisch ihrem Job nachgehen – irgendwelche hehren Ideale sind im Dienst, der sich zwischen langweiliger Routine und lebensgefährlichen Stresssituationen bewegt, ohnehin längst verloren gegangen. Und ein weiteres Motiv, das sich immer wieder durch Kathryn Bigelows Filme, wie etwa Point Break und Strange Days, zieht, findet sich auch in The Hurt Locker wieder: Die Sucht der Charaktere nach Gefahr und Aufregung, jenem grenzgängerischen Verhalten, das den ultimativen Kick verspricht, eine Erfahrung, für die man sogar bereit ist, das eigene Leben zu riskieren. Denn der Kriegseinsatz bringt neben all den Belastungen auch ein intensives Lebens- oder vielmehr Todesgefühl mit sich, dass der Protagonist Sergeant William James (Jeremy Renner) zu Hause bei seiner Familie schnell vermisst. Am Schluss von The Hurt Locker spiegelt sich dann auch die Erleichterung in seinem Gesicht wider, als er erneut seinen gefährlichen Dienst im Irak antreten darf – womit er sich nahtlos in die Gruppe ambivalenter Charaktere im Universum Kathryn Bigelows einreiht.
Mit einem brisanten Thema beschäftigt sich auch Bigelows neuer Film Zero Dark Thirty, nämlich mit der Suche nach jenem Mann, der seit den Anschlägen von 9/11 als Staatsfeind Nummer Eins der USA galt: Osama bin Laden. Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits die im Hintergrund die Fäden ziehende und die Jagd nach bin Laden orchestrierende CIA-Agentin (gespielt von Jessica Chastain) und andererseits jene Spezialeinheit, die schlussendlich den spektakulären Zugriff durchführte. Das Drehbuch hat übrigens Mark Boal verfasst, der schon für das Skript von The Hurt Locker – in dem er seine Erfahrungen als „embedded journalist“ im Irak einfließen ließ – verantwortlich zeichnete. Ein früher Höhepunkt des Kinojahrs 2013 dürfte damit garantiert sein.
Zero Dark Thirty
USA 2012 – Regie Kathryn Bigelow Drehbuch Mark Boal Kamera Greig Fraser Schnitt William Goldenberg, Dylan Tichenor Musik Alexandre Desplat
Production Design Jeremy Hindle Kostüm George L. Little
Mit Jessica Chastain, Christ Pratt, Kyle Chandler, Scott Adkins, Jennifer Ehle, James Gandolfini, Frank Grillo, Mark Strong, Taylor Kinney
Verleih Universal Pictures, 152 Minuten
Kinostart 11. Jänner 2013