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Zum sterben schön

Text: Ruth Schink | Fotos: Melanie Pullen
Melanie Pullen

Am Anfang waren ein Buch, eine Kreditkarte und eine Fotografin in ihren frühen Zwanzigern. Zu dieser Zeit sah Melanie Pullens Wohnung in den Silverlake Hills in Los Angeles aus wie die eines Serienkillers – an den Wänden Zeitungsausschnitte von Morden, Dutzende Bilder von Models und das Silikonmodell einer Frauenleiche in der Badewanne. Aufklärung für die todschicke Ausstattung bot ihre künstlerische Arbeit an der Serie High Fashion Crime Scenes.

Pullens Interesse an Verbrechen begann, als sie Ende der 1990er Luc Santes Buch „Evidence“ bei Book Soup in West Hollywood entdeckte. Der Bildband versammelt Verbrechensfotos des New York Police Department aus den Jahren 1914 bis 1919.

Damals war die Tatort-Fotografie weit von ihrer heutigen klinischen Form entfernt. Aufgrund der Komplexität der früheren Kameras gab es nicht so viele Fotografen. Die meisten Künstler hatten daher auch einen professionellen Hintergrund. Mit einem Blick für Komposition und Licht schufen Eugène Atget, Alexander Gardner, Jacob Riis und Arthur Fellig Tatortbilder, die zugleich künstlerisch und dokumentarisch waren.

Diese Fotos leben nicht von der puren Abbildung des Verbrechens, sondern von jenen Fragmenten des Alltäglichen, die Seite an Seite mit dem Drama existieren. Details wie eine umgeworfene Lampe erzählen ihre eigene Geschichte. Gefesselt von den Storys, die in den Akten konserviert waren, begann Pullen intensive Recherchen in den Archiven des Los Angeles Police Department durchzuführen und eine Unmenge an Material zu sichern.

Ab 2003 beginnt sie einige der Tatorte nachzustellen und ihre Opfer, ausgewählte Models, an den Originalschauplätzen der Verbrechen in Haute Couture zu fotografieren. Die Morde aus den Vierziger und Fünfziger Jahren sind längst verjährt und vergessen. Einige der Fälle wurden nie gelöst. Pullens Opfer bleiben damit anonym, ihre wahre Geschichte verharrt im Dunkeln. Der Betrachter muss die Lücken selber füllen. Viele Details der Polizeifotos stellt Pullen minutiös nach, andere fügt sie einfach hinzu. Wie im Fall von Dorothy.

„Dorothy is the first piece in the series. I dreamt about a woman in a barrel years before. It kind of represents the entire series to me and is based almost entirely on reality.“

Im tatsächlichen Mordfall handelte es sich um einen geköpften Mann in einem Fass. Seine Beine ersetzte Pullen durch makellos schneewittchenweiße Frauenbeine, elegant beschuht mit glänzend roten High Heels. Dank Dorothy, wie sie ihr Opfer benannte, verwandelte sie ein schreckliches Motiv in etwas Ästhetisches. Aus brutal und verstörend wurde anziehend und magisch. Das letzte, was der Betrachter bemerken sollte, ist das Verbrechen selbst.

„It’s something psychological that I noticed. I was going to get immune when looking at violent images. I would notice the wallpaper before seeing a dead body. So I’m recreating not only crime scenes but this thing I was doing, was taking the viewer on the same journey I found myself going on as I grew desensitized to violence.“

Bis zu drei Meter groß sind Pullens hyperreal wirkende Bilder. Die Farben werden bei der Entwicklung noch intensiviert. Die Gehängten, Ertränkten und Erschossenen bekommen nicht nur schickeste Designerklamotten verpasst, sondern auch liebevolle Decknamen wie Dorothy, Laura, Rachel und Renee.

„If a violent crime happens to a beautiful woman it’s front-page news because the public become fascinated by the crime. Beauty in women is one of the biggest selling points in advertising too. The High Fashion Crime Scene series is really a tongue-and-cheek commentary on all that exploitation.“

Die Größe, die Namen, die Farben, die Mode – all das lenkt vom Eigentlichen ab. Dem Verbrechen und seinem Opfer. Und so kann es leicht geschehen, dass wir uns fragen, woher jene sündhaft teuren Rhinozerosleder-Sandalen stammen, bevor wir den abgetrennten Kopf am anderen Ende der Dame bemerken. Diese radikale Darstellung von Gewalt an Frauen sorgt nicht immer für positive Reaktionen.

„I never thought that people would like High Fashion Crime Scenes. It was made really for myself and because I had to make it – the idea was haunting me and I had to get it out.  So when people liked it I was shocked – I wanted to hear why. I always loved the people that hated the series … An older woman once stormed out of the gallery. I couldn’t help thinking she was probably going home to watch CSI but couldn’t bear my work.“

In den meisten Fällen wurde an den Original-Tatorten fotografiert. Um zwei Uhr morgens mit einem blutjungen Model und einer 5.000-Dollar-Handtasche an den dunkelsten Enden der Stadt zu shooten, war niemals ganz ungefährlich. Doch Ärger gab es in den letzten zehn Jahren weniger mit den zwielichtigen Anrainern, sondern vielmehr mit der Polizei selbst.

„I’m always on the edge and willing to take risks. A lot of times though this means we can’t afford permits. So there’s a lot of running from the police and figuring out how to shoot in impossible locations.“

Pullen ist besessen von der Suche nach authentischen Schauplätz-en, gut durchdachten Details und ausgeklügelt umgesetzten Sets. Zu jedem Shooting gibt es minutiöse Storyboards mit tausenden Skizzen und Produktionsnotizen.

„For certain images the accuracy had to be almost perfect. My self-portrait is a good example. It’s very close to the actual image however I do change things very slightly to make the work my own … (when shooting) I had a fever of 105 degrees – I should have been in the hospital and I was practically passing out. But I thought it could work for the image – and it did. After that image though I almost died and had to be in bed for two weeks.“

Ihre Sets werden von kleinen Armeen an Stylisten, Bühnenbildnern, Make-up-Artists, Schauspielern und Models bevölkert. Bis zu 60 Helfer sind teilweise in die Umsetzung eingebunden. Zu Beginn arbeitete der Großteil der Crew unentgeltlich – darunter die Stunt-Experten des Tarantino-Films „Kill Bill“, ein Team der TV-Serie „CSI“, mehrere Models großer Kampagnen, sowie die Schauspielerinnen Rachel Miner und Juliette Lewis. Anders wäre die Arbeit in den frühen Jahren auch nicht finanzierbar gewesen. Anfangs kaufte Pullen tatsächlich die teuren Designeroutfits in Beverly Hills, um sie nach jedem Shooting sofort wieder umzutauschen. Eine Methode, die ihre private Kreditkarte ebenso heißlaufen ließ wie die Verkäufer bei Barneys.

Später unterstützen Prada, Bulgari, Gucci, Chanel oder Vivienne Westwood die Künstlerin mit Leihgaben aus ihren aktuellen Kollektionen. Pro Jahr hat Pullen Mode im Wert von durchschnittlich rund 1,9 Millionen Dollar fotografiert. Das Fashion-Magazin „Elle“ protegierte sie ebenso, wie wichtige Ausstellungshäuser in Kalifornien. Ihr teuerster Verkauf aus der Serie lag nach eigenen Angaben zwischen 40.000 Dollar und einer Million.

Das bisher größte Projekt ihres Lebens ist jedoch Violent Times. Mit dem aktuellen Werkzyklus begann sie bereits 2004.Für die Soldaten-Porträts und Kampfszenen verwendet sie historische Bildvorlagen – wie schon in High Fashion Crime Scenes. Gemälde von Rembrandt, David und Delacroix hielten ebenso Einzug wie neuzeitliche Propagandafotos. Mode spielt auch in dieser Serie eine große Rolle. Denn der klassische Kriegsheld wird über seine Uniform, seine Bewaffnung und seine Orden definiert.

„I am absolutely fascinated by violence. It’s the strangest part of humanity that seems to defy education and intelligence.“

Auch für die Umsetzung von Violent Times benötigte Pullen eine Horde von Helfern. Um eine monumentale Kriegsszene nachstellen und Teile Berlins rekonstruieren zu können, arbeitete sie mehrere Monate lang mit einem Filmstudio und hunderten von Statisten zusammen. Vor kurzem hat sie die Shootings zur Serie abgeschlossen – zumindest fürs Erste. Derzeit arbeitet sie für eine Sonderausstellung in Paris schon wieder an einem neuen Kapitel von High Fashion Crime Scenes. Auf den endgültigen Final Shot werden ihre Gegner also noch lange warten müssen.

Crime als Bestseller

Oder: Wie der Kunstmarkt mit Verbrechen Millionen macht. Der Tod steht nicht nur Melanie Pullen gut. Mit Verbrechen lässt sich heutzutage mörderisch gut verdienen. Fernsehserien wie „CSI“, „Criminal Minds“ oder „Dexter“ zeigen, wie breit das Phänomen bereits geworden ist. Polizeipsychologen wie Dr. Thomas Müller avancieren zu Medienstars. Kannibalen und Amokläufer werden zu den Helden der Abendnachrichten. In der modernen Mediengesellschaft hat das Verbrechen längst seinen Platz ganz oben gefunden. Dort sonnt es sich im Erfolg hoher Auflagezahlen und Einschaltquoten. Niedrig hingegen ist die Empfindsamkeit jener geworden, die bei abgetrenn-ten Gliedmaßen oder ähnlich mordlüsternen Details keinerlei negative Regung mehr zeigen.

Wo der Kommerz sein Unwesen treibt, kann auch die Kunst nicht weit sein. Auf der Suche nach dem, was heute noch schockieren, berühren und Tabus brechen kann, hat das Thema Gewalt, Krieg und Verbrechen in die Ateliers, Galerien und Museen der Welt Einzug gehalten.

Gerade in der Fotokunst finden wir viele erfolgreiche Crime Bestseller. Ein gutes Beispiel sind die so genannten „Mug Shots“. Jene historischen Polizei-Aufnahmen von Verdächtigen wurden über lange Zeit hinweg einfach vernichtet, wenn sie ermittlungstechnisch nicht mehr benötigt wurden. Dieser Umstand und die Tatsache, dass jeder Mug Shot ein Unikat ist, haben aus den alten schwarz-weiß Porträts begehrte Sammlerobjekte gemacht. Galerien, Museen und private Käufer zahlen derzeit bis zu eintausend Dollar pro Stück. Schon Pop-Art-Ikone Andy Warhol war von Fotografien dieser Herkunft angetan. Seine berühmten „Thirteen Most Wanted Men“ entstanden 1963 nach dem Vorbild von Mug Shots des New York Police Department.

Natürlich ist dieses Phänomen nicht gänzlich neu. In Amerika gab es um die letzte Jahrhundertwende einen wahren Boom in der Postkarten-Industrie. Angetrieben wurde er durch die Fotos von Lynchmorden. Bis in die Fünfziger Jahre konnte man darauf ruhmvolle Detectives mit ihren meist schwarzen Opfern posieren sehen. Diese grausamen Zeugnisse entwickelten sich, so unfassbar das klingen mag, zu einem echten Verkaufsschlager.

Ein todsicherer Investment-Tipp am Kunstmarkt ist auch Lucinda Devlin. Die in Indianapolis lebende Fotografin hat in ihrer Serie „Omega Suites“ Hinrichtungstrakte amerikanischer Gefängnisse abgelichtet. Leere, von kaltem Neonlicht durchflutete Räume starren auf ihren Bildern dem Betrachter entgegen. Das Fehlen von Menschen deutet auf die finale Lösung des „Problems“ hin. Was bleibt, sind die unmenschlichen Werkzeuge eines demokratischen Systems – ein Stuhl mit elektrischem Anschluss, eine Bahre mit extrabreiten Hand- und Fußfesseln. Eine stumme Kritik, die ein dumpfes Gefühl des Unbehagens hinterlässt.

Paul Seawright arbeitet mit ähnlichen Mitteln wie Devlin. Sein Fotozyklus „Sectarian Murder“ dokumentiert Orte des nordirischen Bürgerkriegs. Neben den unauffälligen Aufnahmen von Stadt und Land teilt ein lapidarer Bildtext Namen und Todesart des Opfers mit. Durch die Zurückhaltung wirkt Seawright allerdings umso eindringlicher.

Wesentlich plakativer rückt Damien Hirsts diamantenbesetzter Totenschädel das morbide Thema ins gewinnbringende Licht. „For the Love of God“ erzielte den irrwitzigen Rekordpreis von 75 Millionen Euro. Der britische Skandalkünstler ist aber nicht nur millionenschwer, er versteht auch jede Menge von Tabus. Wo andere nur ein wenig an der Oberfläche kratzen, rückt er mit dem Vorschlaghammer an. Dass dabei selbst Hirst manchmal an seine Grenzen stößt, zeigt der Fall einer Familie. Diese wehrte sich erfolgreich dagegen, dass ein Verbrechen an einem ihr nahe stehenden Opfer vom Künstler nachgestellt wurde. Der Skandal war perfekt und das Projekt wurde gestoppt. In dieser Causa zählt wohl der Grundsatz: Selbst schlechte Presse ist gute Presse. Und so werden sich Hirst & Co auch weiterhin mörderisch gut verkaufen.

Melanie Pullen wird 1975 in New York City geboren. Aufgewachsen in einer Familie von Fotojournalisten, Herausgebern und Malern, scheint ihr Weg als Künstlerin vorprogrammiert. Doch erst mit Anfang Zwanzig wendet sie sich der Fotografie zu und lernt autodidaktisch. Sie arbeitet einige Zeit in London, werkt für Aldo Mauro und schießt Fotostrecken für Magazine wie „Rolling Stone“ und „Flaunt“. Eine breitere Bekanntheit erlangt sie in den USA erstmals 2005 mit ihrer Serie High Fashion Crime Scenes, in der sie Tatortfotos des LAPD als Vorlage für ihre Shootings mit blutjungen Models wählt. Die Inszenierung der Todesopfer in Haute Couture bringt ihr bald namhafte Unterstützer wie das Mode-Magazin „Elle“. Die „New York Times“, die „Los Angeles Times“, „The Independent“, „Artweek“ und „Vogue widmen der Newcomerin daraufhin Porträts. Ihre aktuelle Serie Violent Times befasst sich mit dem Thema Krieg und ist derzeit in der ACE Gallery in Beverly Hills zu sehen. Zu Pullens Vorbildern zählen Filmemacher wie Godard, Truffaut, Buñuel und Kubrick. Die Künstlerin, die über sich selbst sagt, sie werde oft mit Kirsten Dunst verwechselt, lebt in Los Angeles, Kalifornien. 

| FAQ 01 | | Text: Ruth Schink | Fotos: Melanie Pullen
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