Susan Sontag sprach ihr etwas „Magisches“ zu, Walter Benjamin erkannte darin einen „magischen Wert“ und Roland Barthes wollte sie eher als „Magie“ denn als Kunst verstanden wissen. Die Rede ist von Fotografie, einem Medium kultureller Transformation und radikaler Selbstkonstruktion, kollektiver Identitätsbildung und dem ästhetisierten Bruch mit dem Moment. „Fotografie war wie eine Berechtigung, dorthin zu gehen, wohin ich wollte und zu tun, was ich tun wollte“, schrieb die amerikanische Fotografin Diane Arbus Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Finger am Auslöser wurde zum Eintrittsticket in eine andere Welt und zu dessen Kontrolleur. Noch Anfang der 1930er Jahre sagte Walter Benjamin: „Immer kleiner wird die Kamera, immer bereiter wird sie, geheime Fotos aufzunehmen.“ Das Medium ging, vor nicht einmal 100 Jahren, in den Alltag über, wurde zu einem Bestandteil seiner Dokumentation und Speicher kollektiven Gedächtnisses. Wo sonst, außer im Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“, hätte die Fotografie ihre magische Wirkkraft besser ausspielen können? Wo sonst hätte sie die Geschwindigkeit der Moderne eindrucksvoller einfangen sollen? Aufnahmen von Robert Frank, der österreichischen Exilantin Lisette Model oder Gregory Crewdson lassen erkennen, was sich zwischen Ost- und Westküste nach Ende des Zweiten Weltkriegs abspielte. Mit Kameras gelang es ihnen, etwas einzufangen, das man dokumentarisches Eindringen nennen möchte. Sie legten das Innerste ihres Gegenübers offen, verwandelten den Blick des anderen Gleichen – und vermaßen den Seelenzustand der USA zwischen dem Beat der Straße und Lyncheskem Vorstadtidyll.
„American Photography“, die Ausstellung in der Wiener Albertina, navigiert über Highways der 1960er und durch Jazz-Konzerte der 40er. Sie schlängelt sich durch New Yorker U-Bahnen und den Blick auf einen Alltag zwischen Konsum, Rassismus und dem Versprechen von einem Traum, der Fiktion bleiben muss, um Realität zu werden. Man muss dabei nicht vom „Spiegel einer Gesellschaft“ sprechen, um in den Fotografien etwas zu erkennen, das sich in die Bildsprache eingeprägt hat – die in Neonlicht getauchte Fiktion eines Landes, das alles andere als „united“ war und ist. „Die Fotos sind Rätsel, die im Lauf der Zeit ihre Bedeutung preisgeben“, schreibt Trevor Traina, Botschafter der USA in Österreich und Besitzer einer der größten privaten Sammlungen amerikanischer Fotografie. Viele Abzüge, die in der Albertina zu sehen sind, stammen aus seinem Besitz. Sie ergänzen die von Albertina-Chef Klaus Albrecht Schöner als „Leistungsschau der Fotosammlung“ bezeichnete Ausstellung um eine wichtige Perspektive: die des Sammlers als Chronisten der Vergangenheit. Schließlich muss man, um den Ausgangspunkt der amerikanischen Fotografie zu verstehen, ihre Geschichtsschreibung thematisieren.
Das Ende der „Roaring Twenties“ und der Beginn einer weltweiten Wirtschaftskrise führten zu einer Verdichtung fotografischer Richtungen. Von Porträts über Fotojournalismus bis zur Kunstfotografie entwickelte sich ein dokumentarischer Stil mit Anspruch auf Ästhetik. Grund dafür war auch, dass die US-Regierung unter Franklin D. Roosevelt Mitte der 1930er Jahre ein staatliches Programm anordnete, dass ein Dutzend Fotografen und Fotografinnen mit Filmen durch das Land schickte. Sie sollten nicht nur Krisenregionen, sondern auch die Belange der ländlichen Bevölkerung einfangen und damit die Fähigkeit zur Resilienz einer Nation in einer Bildsprache transportieren, die über ihren dokumentarischen Charakter hinausging. Die USA wurden bildlich festgehalten, ihre Highways zu visuellen Verbindungslinien und einzelne Dörfer zu Knotenpunkten eines Kanons, der sich erst im Bild zeigte – und der das Bild brauchte, um sich selbst zu produzieren. Fotografen wie Walker Evans und Dorothea Lange sind heute für ikonische Motive bekannt, die ins kulturelle Gedächtnis eines Landes übergingen, sich festgebrannt haben wie manche Blicke in die Linsen ihrer Apparate. Grobkörnige, in schwarz-weiß gehaltene Perspektiven auf die Alltagskultur der Wirtschaftskrise folgen einer Spur, die sich zwischen der voranschreitenden Industrialisierung und einer entschleunigten Suburbanisierung verfolgen lässt. Die Aufnahmen zeigen dabei niemals nur, was sie darstellen, sondern auch, unter welchen Umständen, in welcher Kontextualisierung und wie das Dargestellte aufgenommen wurde.
Man muss in dieser Hinsicht von einer Aura der Fotografie sprechen. Sie ergreift die Betrachter, fast ohne weiteres Zutun, stellt Nähe zur Situation und dem Gezeigten her, trotz aller Distanz zum Geschehen. Vor einem Porträt von Richard Avedon erkennt man die Macht des Mediums, zu berühren – auf einer emotionalen Ebene, ohne dass sich genau sagen lässt, warum. Jedes Bild, seien es die spontanen Momentaufnahmen von Robert Frank oder die leuchtenden Großstadteindrücke von Joel Meyerowitz, verkörpert eine bestimmte Art des Sehens. Und jede Betrachtung hängt von der Art ab, wie es gesehen werden will. Dadurch wird das fotografische Sehen zu einem auswählenden. Die Auswahl rückt das Gesehene in den wahrnehmenden Bereich. Anders gesagt – und das wird auf den Fotografien der Ausstellung „American Photography“ deutlich – sieht man nie nur eine Situation für sich. Man nimmt vielmehr die Beziehung zwischen den Dingen und der eigenen Lebenswirklichkeit wahr. Und erkennt, dass die Kamera zum amerikanischen Apparat wurde, der zeigte, dass die Vorstellung der verrinnenden Zeit nicht trennbar war von der Wahrnehmung des Sichtbaren. Was die Fotografen und Fotografinnen sahen, war abhängig davon, wo sie zu einer bestimmten Zeit waren; es verhielt sich relativ zum eigenen Standort in Raum und Zeit. Dadurch trugen ihre Bilder zur Erzeugung eines kulturellen Gedächtnisses bei, das sich in der Betrachtung zwar individuell verschiebt, aber gerade
darin auch ständig aktualisiert.
Die Fotografien entwickeln ein Nachleben, einen Abdruck, der der Vergangenheit ebenso angehört wie der Gegenwart. Zeitlichkeiten überlappen sich. Präsenz und Repräsentation, Nähe und Distanz – das Auratische des Vergangenen materialisiert sich im Jetzt, in der Betrachtung, dem Sehen eines Moments, der lange zurückliegt, aber im Bild eigenartig aktuell wirkt. Die Dokumentation der USA differenzierte das Land nicht aus, sondern glich es an und gab ihr eine Formensprache, indem sie das Schöne mit dem Hässlichen in ihren Unterschieden auflöste. „Jeder fotografierte Gegenstand oder Mensch wird zur Fotografie und damit jeder anderen Aufnahme des Fotografen gleichwertig“, schrieb Susan Sontag. Aus den Aufnahmen vom dörflichen Süden der vormodernen USA spricht heute die gleiche formale Schönheit wie aus den futuristischen Abzügen des Großstadtdschungels. Ihre fragmentarische Durchmischung in der Albertina kann deshalb auch als Thermometer eines Landes gelesen werden, das die Temperatur der Gegenwart misst. Und mit „magischen
Werten“ auflädt.
Zu sehen sind dabei fotografische Arbeiten von Größen dieses Metiers wie Ansel Adams, Robert Adams, Diane Arbus, Richard Avedon, Lewis Baltz, Tina Barney, John Coplans, Gregory Crewdson, Philip-Lorca diCorcia, William Eggleston, Mitch Epstein, Walker Evans, Larry Fink, Robert Frank, Lee Friedlander, Nan Goldin, Paul Graham, William Klein, David LaChapelle, O. Winston Link, Ryan McGinley, Ray K. Metzker, Joel Meyerowitz, Lisette Model, Cindy Sherman, Stephen Shore, Alec Soth, Joel Sternfeld, Larry Sultan, Weegee, Garry Winogrand.
ALBERTINA
American Photography
24. August bis 28. November 2021
Albertinaplatz 1, 1010 Wien
www.albertina.at