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Der destruktive Charakter der Wiener Moderne

Erstmalig findet eine große Rückschau auf das Werk von Josef Hoffmann statt. Das Wiener Museum für angewandte Kunst zeigt ab Mitte Dezember das Gesamtkunstwerk eines idealistischen Reformers und vielgestaltenden Zerstörers. Eine Annäherung an seine Ästhetik.

Josef Hoffmann mit von ihm für Lobmeyr 1917 entworfenen Trinkservice No.238 - Patrician. Fotografie: Yoichi R. Okamoto, Wien, nach 1945 © MAK

Hügel und weite Flächen, verschlungen von Feldern, Wiesen und Wäldern, sanft, manchmal abrupt abfallend zu Tälern mit Flüssen und Bächen, einsamen Mühlen, versteckten Märkten und Dörfern, ein Land der Träume und Märchen, unsere Heimat für alle Zeiten trotz aller Gewalt, Trauer und Leid.“ So beschreibt Josef Hoffmann seinen Heimatort Pirnitz im damaligen Mähren. In seiner selbst verfassten Biografie blickte der Architekt, Designer und Schnurrbartträger wenige Jahre vor seinem Tod 1956 zurück – auf seine Kindheit, ihr Ende und ein Leben, das der Suche nach der früh erfahrenen Schönheit, einer ganzseitigen Harmonie und ihrer Vollkommenheit, gewidmet war. Josef Hoffmann, der 1870 geboren wird, gilt heute neben Otto Wagner als der Urvater der Wiener Moderne. Er gründete die Secession genauso mit wie die Wiener Werkstätte, das „Konzentrat“ seiner „künstlerisch-kulturellen Philosophie“, wie Christoph Thun-Hohenstein, der ehemalige Direktor des Museums für angewandte Kunst (MAK), im Zuge der Retrospektive schreibt.

Zum 150. Geburtstag des „Gestaltungsgenies, intuitiven Lehrers und geschickten Netzwerkers“ kommt es – mit einjähriger Verspätung – zur ersten umfassenden Rückschau auf das Gesamtwerk Josef Hoffmanns. Unter dem Titel Fortschritt durch Schönheit stellt das MAK über 1000 Ausstellungsstücke aus. Ein Handbuch beleuchtet auf 450 Seiten sein sechs Jahrzehnte dauerndes Schaffen. Ausgehend vom Aufstieg zum Erfolg hin zur internationalen Relevanz beleuchten Abbildungen und Essays nicht nur den „jungen Hoffmann“, sondern auch seine dunklen Flecken, das kontinuierliche Vergessen seiner Werke sowie ihre späte Wiederentdeckung. Seine Entwürfe umfassten das tägliche Leben vom Aperitifglas bis zum Zigarettenetui; seine Konstruktionen sowohl Wohnhausanlagen als auch Pavillon und Sanatorium. Hoffmann hatte das alltägliche Leben als Gesamtkunstwerk im Sinn, jedes Detail sollte in einer künstlerischen Komposition aufgehen, das einem Ideal folgt: Schönheit durch Gestaltung. Was aus der Ideenwelt der Wiener Werkstätte kam, hatte deshalb Bestand und folgte einem Wertekanon: Nachhaltigkeit, handwerklicher Qualität und Langlebigkeit der Erzeugnisse seien für Hoffmann ebenso wichtig gewesen wie soziale Verantwortung und lokale Produktion, so Thun-Hohenstein, der die Schau im Wiener MAK durchaus als Lehrbeispiel für eine „Klima-Moderne“ bewerten will.

Josef Hoffmann, Sanatorium Westend, Purkersdorf, Fassade, 1905 © Wolfgang Woessner/MAK

Schließlich folgte Hoffmann in seinem sechs Jahrzehnte überdauernden Schaffen der Philosophie des Handwerks. Der Mann, der seine Kindheit im hohen Alter idyllisch verklärte, suchte während seines Lebens nach einer Vergangenheit, die es nie gab. Als junger Student trifft er an der Staatsgewerbeschule in Brünn auf seinen späteren Kritiker und Kontrahenten Adolf Loos. Mit 22 Jahren übersiedelt Hoffmann nach Wien, um an der Universität der bildenden Künste zu studieren – zuerst bei Ringstraßen-Architekt Carl Freiherr von Hasenauer, bald bei Otto Wagner, dessen Wirkung eine Zäsur für die Architektur und das Denken von Hoffmann darstellt. In Italien, das er nach seinem Studienabschluss bereist, findet er zusätzliche Inspiration für seine frühe Arbeit. Die Landhäuser des Südens mit ihren flachen Dächern und ornamentbefreiten Fassaden faszinieren ihn. Ihr Innenraum, so schreibt Hoffmann in seinen Aufzeichnungen auf Capri, sei im Außen abzulesen, sie verbänden sich zu einer Einheit, frei von künstlicher Überhäufung. Ein Ideal, das Hoffmann im hochindustrialisierten Herzen der k. u. k. Monarchie nicht findet, ihn aber antreibt. „Hoffentlich wird auch bei uns die Stunde schlagen, wo man die Tapete, die Deckenmalerei wie Möbel und Nutzgegenstände nicht beim Händler, sondern beim Künstler bestellen wird.“

Zwischentitel: Zerstören verjüngt

Hoffmann ist ein sensibler Mensch mit einem destruktiven Charakter, der nichts Dauerndes sieht und deshalb zerstört, um Wege entstehen zu lassen. Man darf das nicht missverstehen. Der destruktive Charakter ist weniger menschliches Individuum, sondern Modell, das die Nähe zur Masse braucht, ohne in ihr aufzugehen. Eines, das den Weg für andere freiräumt, um in der Schneise Neues entstehen zu lassen. Schließlich will er, der destruktive Charakter, den freien, neu geschaffenen Raum nicht besitzen, sondern ein Ideal in die Welt setzen, das sich innerhalb der Trümmer des Vergangenen bewegt und anderen zugänglich macht. „Zerstören verjüngt“, schrieb Walter Benjamin zum Ende der Weimarer Republik. Der Gegenwarts-»Chock« wurde – gleich wie um die Jahrhundertwende für Hoffmann – zum Gradmesser, die Parole: Platz schaffen, Neues wagen. Der Gedanke, dass aus Zerstörung etwas Positives hervorgehen kann, mag im heutigen Verständnis unlogisch erscheinen. Im Umbruch der Weltordnung war er denkbar. Und konstruktiv. Die Avantgarde, die neuen Modernen, schälte sich vom Historismus. Sie verfolgte die Maxime der Erneuerung, ihr schwebte ein Bild ohne Referenz vor. Es ging um den Raum, der entsteht, wenn anderes wegfällt, oder: wegfallen muss, bevor der Rückschritt in den Fortschritt übergeht.

Josef Hoffmann, Teeservice für die Wiener Werkstätte, Metall, 1903 © MAK/Katrin Wißkirchen

Die Leere wurde zur Chance einer Konstruktion des neuen Stils, das Zerstören ihre Bedingung. Denn die Konstruktion schöpft nichts, im Gegenteil. Sie ist Anti-Schöpfung, bringt nichts hervor. „Das Bestehende legt er“, der destruktive Charakter, „in Trümmer“. Aber nicht „um der Trümmer, sondern um des Weges willen, der sich durch sie hindurchzieht“, schrieb Benjamin. Dieser Zwang zur Notwendigkeit der Erneuerung entstammt einem Bruch, den der destruktive Charakter verkörpert. Er ist die Verkörperung des Wandels, der nötig ist, weil alles, was im Weg steht, sich verschlossen hat für neue Wege. Auf seinen Schultern lasten das Gewesene und der Druck zur Erbauung des Neuen. Wenn er zurückblickt, wandert sein Blick gleichermaßen nach vorne. Der destruktive Charakter sieht die Geschichte und ihr Erbe, steht in einer Tradition und ist gleichzeitig ihre Überwindung. Hoffmann zerstört das Gewesene, indem er an der Übermittlung seiner Zitate arbeitet, sie sammelt und neu anordnet. Das Ideal ist die Schönheit. Die Erfindung des Bruchs ihre Bedingung. Deshalb arbeitet Hoffmann, aber auch seine Wiener Werkstätte, in einer Art des zerstörenden Bewahrens. Er denkt Tradition und Destruktion zusammen, um deren Verbindungsstränge in der Verabsolutierung des Schönen zu suchen. Damit übt er nicht nur Kritik an der positivistischen Moderne – an einer von wissenschaftlichem Wissen angefüllten Hochschätzung der Naturwissenschaften, die den technischen Fortschritt zur einzigen Doktrin erhebt –, sondern auch an der totalitären Phase der Industrialisierung, die ihre künstlerischen Auswuchs im Historismus findet. Der sogenannte Wiener Stil ist Hoffmanns Antwort auf die Verrohung der Welt. „Die im Laufe der industriellen Revolution verloren gegangene Tradition“, so der Kunsthistoriker Christian Witt-Döring, „steht für eine selbstverständlich aus der lokalen Kultur hervorgegangene, die täglichen Bedürfnisse des Bürgers zweckdienlich, ehrlich und bescheiden befriedigende Formensprache.“

Josef Hoffmann, Entwurf für ein Silberbesteck für Fritz und Lili Waerndorfer, flaches Modell, Wiener Werkstätte, 1904 © MAK

Die Antwort auf eine Welt, die sich immer schneller zu drehen schien und deren Feuer in den Fabriken der Industrie brannte, war ein Rückgriff auf die handwerkliche Kunstproduktion. Und der Glaube, dass Achtsamkeit und Entschleunigung eine intrinsische Qualität der individuellen Schönheit seien. Dass sie nicht nur menschliche Notwendigkeit, sondern notwendige Menschlichkeit erzwängen. Hier lassen sich durchaus Parallelen zu Mustern unserer Gegenwart erkennen. Das Bedürfnis, dem rasenden Stillstand der Digitalisierung zu entkommen, führt zurück einer Hands-on-Mentalität. Man denke an Bilder aus frühen Zeiten der Pandemie, als Menschen die Baumärkte stürmten. Das Credo: Es gibt immer etwas zu tun. Die Flucht aus den Zwängen der Spätmoderne führt zurück zum Ursprung. Das schwedische Möbelhaus wird zum mutierten Auswuchs der Wiener Werkstätte – mit dem Unterschied, dass die Produktion heute nicht mehr in den Händen eines einzelnen Produzenten liegt, sondern wir alle zu Handwerkerinnen und Handwerkern geworden sind.

„Trotzdem geht damit ein stärkerer Bezug zur bewussten Auseinandersetzung mit dem einer, was man auf den Tisch stellt“, sagt Leonid Rath. Er ist Miteigner der Glasmanufaktur Lobmeyr in Wien – jenes Unternehmen, das ab 1910 den Glas-Entwürfen von Josef Hoffmann zur Umsetzung verhilft. Und stilbildende Glas-Services wie Patrician oder Serie B nach wie vor umsetzt. „Hoffmann wollte aber nicht, dass die Menschen selbst zu Handwerkern werden“, sagt Rath. Schließlich hätte das nicht seinem Traum der Qualitäts-gesellschaft entsprochen. „Die Aufgabe, das Schöne zu produzieren, sah er als Aufgabe des Kunstgewerbes an.“ Deshalb habe er sich in einem ständigen Dialog mit den Handwerkern befunden und seine Skizzen mit langen Ausführungen bedacht. „Das hat die Produkte nicht nur besser gemacht“, so Rath. „Es war ihr Erfolgsfaktor – weil er sich in die Handwerker hineingedacht und die Umsetzbarkeit in den Entwürfen mitbedacht hat.“

Josef Hoffmann, Serie B für J. & L. Lobmeyr, 1912. © Lobmeyr/Klaus Fritsch

Zwischentitel: Ästhetischer Fundamentalismus

Hoffmann, der 1903 die Wiener Werkstätte mit Koloman Moser gründet, ist davon überzeugt, dass das Kunstgewerbe, das er als österreichische Kulturleistung definiert, ein identitätsstiftender Kulturträger des Staates sein muss. Darin kann man den demokratischen Paternalismus seines Ideals erkennen. Er setzt den Menschen nicht das vor, wovon er ausgeht, dass sie es wollen. Er rechnet ihnen viel mehr die Fähigkeit zu, Dinge zu mögen, zu akzeptieren oder wahrzunehmen, von denen sie im jeweiligen Moment noch nicht wissen, dass sie sie mögen, akzeptieren oder wahrnehmen könnten …

Lesen Sie den vollständigen Artikel in der Printausgabe des FAQ 63

 

JOSEF HOFFMANN. Fortschritt durch Schönheit
15. Dezember 2021 – 19. Juni 2022
MAK – Museum für angewandte Kunst
Stubenring 5, 1010 Wien

 

| FAQ 63 | | Text: Christoph Benkeser
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