Startseite » Der Konstrukteur

Der Konstrukteur

Der französische Ausnahmearchitekt und Designer Jean Prouvé konstruierte Trinkhallen und Tankstellen, zeichnete Stühle wie Lampen und revolutionierte die Baukunst.

Vitra, Fauteuil Kangourou Limited Edition II © Jean Prouvé

Ohne Ihn sähe das berühmte Centre Pompidou in Paris nicht aus wie eine außerirdische Außenstelle der OMV – man hätte es im Rausch der 1970er Jahre als Betonklotz in die französische Metropole geklatscht. Jean Prouvé, Designer und Konstrukteur, saß 1971 jener Jury vor, die sich für den Raffinerie-Entwurf von Renzo Piano und Richard Rogers entscheiden sollte. In den Augen manches Nachkriegsmodernisten war das ein Skandal. Schließlich sei Prouvé zeit seines Lebens zwar erfahrener Ingenieur und Baumeister, nie aber Architekt gewesen.

Jean Prouvé in Nancy © Vitra

Inzwischen beziehen sich zeitgenössische Architektinnen und Architekten auf die Entwürfe des Franzosen. Piano verehrte Prouvé, Norman Foster kuratierte Ausstellungen von ihm und Jean Nouvel adaptiere einzelne Entwürfe. Sie alle attestieren Prouvé eine „zeitlose“ Formensprache. Tatsächlich wirken viele Konstruktionen, als wären sie in Computerprogrammen der Gegenwart und nicht am Reißbrett des 20. Jahrhunderts entstanden. Nicht ohne Grund meinen manche, Jean Prouvé habe die architektonische Sprache der Postmoderne begründet. Andere sehen in seinen Skizzen für Fassadenelemente von Tankstellen oder Trinkhallen sogar die modernisierte Mutation des Jugendstils. Und wer das von ihm konzipierte Wohnhaus in den Hügeln von Nancy betrachtet, erkennt im scheinbaren Wirrwarr der Formen eine Virtuosität des Versatzstücks.

Dass sein Name heute trotzdem vermehrt auf Kunst- und Designmessen fällt, hat andere Gründe. Als gelernter Schmied war der 1901 in Paris und 1984 in Nancy verstorbene Prouvé an Metallen aller Art interessiert. Die Entwicklungen seiner Zeit kombinierte er mit überlieferten Kenntnissen zu Material und seiner Bearbeitung. Stahl verband sich bei ihm mit Holz, die Kräfte der Körper sollten in den Entwürfen immer sichtbar sein. Während sich seine Pariser Lehrjahre in der urbanen Schlankheit niederschlugen, kehrte der Einfluss seiner Heimat, die École de Nancy, in Farb- und Formgebung wieder.

Das Haus von Jean Prouvé in Nancy © Vitra

Wer 2022 durch heimische Möbelhäuser irrt, folgt Prouvés Spuren. Immer häufiger lassen sich Abwandlungen seiner Konzepte in Stühlen, Tischen und Regalen erkennen. Die einfache Sprache des Ingenieurs, ein Hauch von Industrie und Schulklasse, lässt sich problemlos neben Duftkerzen und Monsterapflanzen übersetzen. Dass ausgerechnet ein anderer Möbelhersteller für die jüngere Bekanntheit von Jean Prouvé verantwortlich ist, bleibt interessante Ironie. Schließlich besitzt Vitra die umfangreichste Sammlung von Prouvé’schen Originalen. Ob Sessel, Stühle oder Lampenschirme, das Schweizer Unternehmen stellt die Entwürfe nicht nur aus, sondern seit Jahren auch als fertige Produkte in Wohnungen dieser Welt.

2002 ging die erste Serie von Prouvé-Entwürfen in Produktion – unter anderem der Stuhl „Standard“, der wie gemacht dafür erscheint, auf seinen hinteren Beinen zu balancieren; oder der Tisch „Trapèze“, ein mattschwarzer Monolith aus Stahlblech. Inzwischen fertigt man in Biel zwei Dutzend weitere Modelle aus der Füllfeder von Prouvé. Anlässlich der 20-jährigen Zusammenarbeit greift Vitra aber nicht nur den Bestandskatalog an. Der Möbelhersteller packt zur Geburtstagsfeier auch den Farbkasten aus. Metallbeine und Stahlstreben der Tische und Sessel sollen zukünftig in Farben des „jungen Weizens“ und den Grautönen des holländischen Barockmalers Johann Vermeer glänzen. Eine Erweiterung, die mit den Erben Prouvés „fein abgestimmt“ und der Farbenlehre ihrer Originale nachempfunden sei. Ähnliches habe das Unternehmen mit der Umsetzung des „Fauteuil Kangourou“ vor, ein Sessel, den Prouvé 1948 entwarf. Mit ein wenig Fantasie und dem Wissen über seinen Namen lasse sich in der Form des Möbels ein Känguru erkennen. Andere haben darin schon elegant verarbeitetes Brennholz entdecken wollen. Weil Vitra auf künstliche Verknappung setzt, war die limitierte Auflage von 150 Stück trotzdem in kurzer Zeit vergriffen.

Vitra Collection, Jean Prouvé © Vitra

Man merkt: Prouvé, der zeit seines Lebens längst nicht die Anerkennung fand, die man ihm posthum entgegenbringt, ist fest im Kanon des architektonischen Designs verankert. Manch ein Entwurf etablierte sich über die Jahre als Ikone des Designs. Die Nachfrage nach ihren Umsetzungen bleibt ungebrochen. Prouvés Nachlass stellt deshalb Fundgrube und Schatz für nachfolgende Generationen der Ingenieurskunst dar. Auch weil die Verbindung von materialgerechter Nutzung bei ästhetischer Beständigkeit ökonomische Aktualität erfährt – im öffentlichen Ausstellungsraum ebenso wie im privaten Wohnzimmer.

www.vitra.com

 

| FAQ 67 | | Text: Christoph Benkeser
Share