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„Ich mache kein Kino mehr“

Spätestens seit dem Film „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ ist Adèle Haenel nicht nur in Frankreich ein Star. Bei den Wiener Festwochen ist die Schauspielerin in „Der Teich“ auf der Bühne zu sehen. Im Interview erklärt sie, warum sie mit der Filmindustrie gebrochen hat.

Adèle Haenel in "L’Étang", Gisèle Vienne © Estelle Hanania

So viel Wut. So viel Liebe. Mit ihren 33 Jahren zählt Adèle Haenel zu den Superstars des französischen Kinos. Jedes Genre scheint ihr zu liegen: Drama, Komödie, aber meist spielt sie mit der wütenden Geste einer Kämpferin so wie im AIDS-Aktivisten-Film 120 BPM von 2017. Jetzt macht Haenel Theater. Die Wiener Festwochen zeigen Gisèle Viennes verstörendes Werk „Der Teich“ nach Robert Walser, in dem sie drei Kinderfiguren gleichzeitig spielt.
Über dreißig Filme hat Haenel gedreht, sehr früh damit begonnen und wurde dafür mit Filmpreisen überschüttet. Mit 13 bekam sie die Hauptrolle in Kleine Teufel, die erste César-Nominierung gab es 2008 für Water Lillies, den Debütfilm von Céline Sciamma, mit der sie 2019 Porträt einer jungen Frau in Flammen drehte und der sie weltweit bekannt machte.
Für den Film über die Liebe zwischen zwei Frauen im 18. Jahrhundert, der die Viennale 2019 eröffnet hat, wurden die Schauspielerin und die Regisseurin ebenfalls für die französischen Oscars nominiert. Als bei der Verleihung der wegen sexueller Belästigung mehrfach angeklagte Roman Polanski den Regie-César bekommen sollte, verließen Haenel, Sciamma und weitere Filmschaffende protestierend den Saal. Unter Protest verlässt die Schauspielerin nun die Filmindustrie komplett, wie sie im Interview überraschend erklärt. Sie habe es gerade erst beschlossen, sagt sie, aus politischen Gründen.

Adèle Haenel in L’Étang, Gisèle Vienne © Estelle Hanania

Das Interview fand via Zoom in englischer Sprache statt, die übersetzte Abschrift wurde mehrfach zwischen Wien und Toulouse hin und her geschickt, wo sie gerade mit „Der Teich“ gastierte. Adèle Haenel, deren Vater aus Graz stammt, lernte erst vor ein paar Jahren für die Filmkomödie Die Blumen von gestern mit Lars Eidinger Deutsch. Sie gibt selten überhaupt Interviews und Präzision ist ihr wichtig.

Frau Haenel, welches ist der wichtigste Film, den Sie gedreht haben?

Ich möchte über meine Theaterarbeit sprechen. Ich mache keine Filme mehr.

Reden wir also über Theater. In den letzten Jahren waren Sie nicht oft auf der Bühne zu sehen, Sie sind Filmschauspielerin …

Ich bin keine Filmschauspielerin. Wegen des Erfolges von Porträt einer jungen Frau in Flammen bin ich bekannter dafür, fürs Kino zu arbeiten. Aber nun arbeite ich nur noch am Theater, ich mache kein Kino mehr.

Okay, das höre ich zum ersten Mal.

Weil ich es gerade erst beschlossen habe.

Wieso?

Aus politischen Gründen. Denn die Filmindustrie ist absolut reaktionär, rassistisch und patriarchalisch. Wir werden in die Irre geführt, wenn wir uns sagen, dass die Mächtigen dort guten Willens sind, dass die Welt tatsächlich unter ihrem guten und manchmal ungeschickten Management ungefähr in die richtige Richtung gehen würde. Natürlich nicht. Das einzige, was die Gesellschaft strukturell bewegt, ist der gesellschaftliche Kampf. Und es scheint mir, dass in meinem Fall wegzugehen, zu kämpfen bedeutet. Indem ich diese Branche endgültig verlasse, möchte ich an einer anderen Welt, einem anderen Kino teilhaben.

Sie gehörten sehr lange dazu, haben früh begonnen und mehr als dreißig Filme gedreht. Seit 2020 sind Sie Mitglied der Academy, die die Oscars vergibt …

Bin ich nicht.

Habe ich so gelesen.

Ich weiß nicht, was Sie gelesen haben, vielleicht machen Sie besser das Interview mit sich selbst. Es stimmt nicht. Meine politischen Überzeugungen sind mir im Moment am wichtigsten. Natürlich habe ich in der Filmindustrie gearbeitet und habe versucht, etwas zu ändern. Zum Beispiel die Perspektive von Frauen in den Filmen. Ich habe versucht, etwas von innen zu verändern. Wenn es um die MeToo-Bewegung geht, um Frauenthemen oder Rassismus, ist die Filmbranche halt extrem problematisch. Davon will ich nicht mehr Teil sein.

Männer sind seit Jahrhunderten an den Hebeln der Macht. Ist es nicht ein strukturelles Problem?

Ja. Und dieses strukturelle Problem wird unsichtbar gemacht durch seine Naturalisierung – zu behaupten, dass die gesellschaftliche Ordnung aus der Natur käme. So wird die politische Absicht vertuscht. Zu sagen, dass Dinge schon immer existiert haben, ist eine Irreführung die verwendet wird, um den aktiven, bewusst entschlossenen Auswahlprozess zu verdecken, der die Beziehungen der Mächte aufrecht erhält. Die Kooptation weißer Männer untereinander ist ein Prozess, der dem eigenen Klasseninteresse folgt. Wenn man mit mir über Frieden, über Wiederversöhnung spricht, dann geht es meistens um die Rückkehr des Monologs der Dominanten.

Dagegen muss man kämpfen.

In der Tat möchte ich vor allem sagen, dass deren Art, Kino zu machen nur eine Art ist, Kino zu machen. Ich möchte den Konflikt öffentlich austragen. Nur dann ist es möglich, den politischen Sockel dieser Ordnung aufzudecken und sich zu organisieren, um dagegen zu kämpfen und etwas anderes aufzubauen.

Wieso drehen Sie nicht einfach nur noch mit jenen Menschen, die Ihnen politisch nahestehen, deren Engagement Sie schätzen?

Ich denke, es gibt viele Künstlerinnen und Künstler, die die Welt durch die Kunst neu erfinden wollen und können. Die eine andere Geschichte haben und eine neue Geschichte schreiben. Die Hierarchie der Geschichten ist, wie Foucault es präzis beschrieb, auch ein Problem und Teil des Aufbaus von Machtbeziehungen. Die Frage, wie Kunst produziert wird, ist höchst politisch. Und sie ist auch ein Ort der Kreativität. Wenn man die Welt verändern will, sollte man auch die Wirtschaft ändern – bis hin zur Wirtschaft des Kinos. Diese Kunstwerke, durch ihre neuen Formen, die alle wie neue Sprachen erscheinen, verändern stark die Art und Weise, die Welt zu betrachten. An dieser neuen Kunstgeschichte nehme ich Teil.

Gibt es am Theater nicht oft ebenso problematische Strukturen?

Ja, natürlich. Doch beim Theater und beim Tanz sind die finanziellen Einsätze geringer. Dadurch sind die Machtinteressen weniger stark. Deshalb würde ich sagen, dass es etwas mehr Handlungsspielraum gibt in diesem Bereich.

Haben Sie auf der Bühne mehr Kontrolle darüber, was passiert?

Es geht mir nicht um Kontrolle, es geht um Verantwortung. Vor allem arbeite ich mit Gisèle Vienne, darum geht es.

Aber Sie haben unter Kontrolle was passiert, wer zusieht, das Einvernehmen mit dem Live-Publikum …

Es geht nicht um Kontrolle, ich glaube wir verstehen einander nicht. Es geht um die Verantwortung, den Normalisierungsprozess zu enthüllen und zu verändern.

Keine Filme mehr mit Ihnen?

Es geht nicht darum, keinen Film mehr zu machen, sondern darum, nicht mehr so Filme zu machen. An neuen Projekten mit Gisèle Vienne, Céline Sciamma oder Regisseuren, die Aktivisten sind, teilnehmen? Ja! Ich möchte an einer anderen Welt mitwirken. Wenn ich heute in dieser Kinobranche bleiben würde, würde ich zu einer Art feministischer Garantie für diese männliche und patriarchalische Industrie. Mein Traum ist es, klar zu machen: Diese Industrie verteidigt eine kapitalistische, patriarchalische, rassistische, sexistische, generell strukturelle Welt der Ungleichheit. Das bedeutet, dass diese Industrie Hand in Hand mit der Weltwirtschaftsordnung arbeitet, in der nicht alle Leben gleich sind. Lassen Sie uns klar sein.

Sie haben das System verlassen, die Industrie mit dem männlichen Blick?

Ich möchte nicht Teil eines feminist washing sein. Es ist Verarschung. Der Leiter der französischen Filmförderungsbe-hörde CNC, Dominique Boutonnat, bleibt im Amt während gegen ihn eine Anklage wegen sexueller Übergriffe läuft. Thierry Frémaux vom Cannes Festival wählt für den offiziellen Wettbewerb 2022 drei Frauen aus. Dann wird mir gesagt, dass es in die richtige Richtung geht? Im Sinne von Verarschung, ja!

Ihre Konsequenz ist bewundernswert. Bezahlen Sie einen hohen Preis für ihren Kampf?

Aus finanzieller Sicht ja. Aber ich würde sagen, in einem anderen Wertesystem, auf der Suche nach Sinn, habe ich das Gefühl, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ich bereue absolut nichts. All diese Verträge zu bekommen, Werbeverträge, Millionen Dollars zu verdienen, das soll unser Traum und Ziel im Leben sein? Während der Planet zugrunde geht, während die Menschen immer ärmer werden, während die Zerstörung sich immer verbreitet …

Lesen Sie das vollständige Interview in der Printausgabe des FAQ 65

 

Adèle Haenel mit Noémie Merlant in Portrait de la jeune fille en feu (2019), Céline Sciamma

Wiener Festwochen meets Stadtkino im Künstlerhaus
Special Screening „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ von Céline Sciamma.
In Anwesenheit und mit anschließendem
Gespräch mit Hauptdarstellerin Adèle Haenel.
Dienstag, 24. Mai um 19 Uhr. Tickets: www.stadtkinowien.at

L’etang / Der Teich
Dramaturgie Gisèle Vienne
Nach dem Buch „Der Teich“ von Robert Walser
25.–28. Mai, Jugendstiltheater am Steinhof
www.festwochen.at

 

 

| FAQ 65 | | Text: Wurmdobler Christopher
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